Jean-Jacques Rousseau misstraut der Aufklärung

Die Rebellion gegen eine alles zermalmende Moderne ist kein Phänomen der Gegenwart. Sie hat ihre Wurzeln in der Zeit der Aufklärung und beginnt mit einem erbitterten Streit zwischen zwei brüderlichen Freunden, Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot. Philipp Blom weiß: „Persönliche und intellektuelle Fragen vermischen sich in diesem jahrelangen Disput, aber sie brachten Rousseau dazu, den aufgeklärten Idealen seiner Freunde zu misstrauen.“ Die Zivilisation, die Großstadt und die Unterdrückung aller Menschen gehören zusammen, räsonierte er, die Aufklärung befreit nicht, sondern entfernt die Gesellschaft mit ihrer kultivierten Kompliziertheit immer weiter von ihrer ursprünglichen Tugend und versklavt sie gleichzeitig durch Mode, gesellschaftliche Anerkennung und Lohnarbeit. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

Auch Stalin und Pol Pot verehrten Jean-Jacques Rousseau

Jean-Jacques Rousseau war fest davon überzeugt, dass die kalte Rationalität der Aufklärung die edlen Gefühle und die Freiheit der Natur im Keim erstickt. Gleichzeitig war er ein begnadeter Stilist, und die Romane, in denen er seinen Hass auf seine Zeit und seine Sehnsucht nach einer besseren Welt dramatisierte, wurden zu Bestsellern und Kultbüchern, die in jedem gebildeten Haushalt Europas und Amerikas gelesen und diskutiert wurden. So wurde der Autor zum Schutzpatron der Zivilisationskritik, der Romantik und später der Umweltbewegung sowie des Protest der 68-er Bewegung.

Diese kurze Ahnenreihe ist nicht vollständig. Philipp Blom erläutert: „Auch Robespierre, Lenin, Stalin und Pol Pot verehrten den Genfer Philosophen, was die Frage aufwirft, was sie in einem Romantiker und Naturapostel sahen, der leidenschaftlich über die Freiheit des Menschen und das Leben nach der Natur geschrieben hatte.“ Die Antwort liegt für Philipp Blom wie immer im Detail und offenbart sich besonders deutlich in einem der meistgeliebten und meistzitierten seiner Werke, dem „Gesellschaftsvertrag“.

Ein weiser Gesetzgeber muss die Führung der Gesellschaft übernehmen

Der Mensch ist für Jean-Jacques Rousseau von Natur aus weder gut noch schlecht. Seine Umstände machen ihn zu dem, der er ist. Eingebunden in eine Gemeinschaft, kann er seine gewalttätigen Instinkte bezähmen und so zum Guten streben, zu dem die Natur ihn hinführt und das sich als der Allgemeine Wille (volonté générale) der Gemeinschaft manifestiert. Die Stimme der Natur und der natürlichen Moral wird allerdings übertönt durch das Geschnatter der Gesellschaft, das Gezeter verschiedener Fraktionen und das Getöse der politischen Macht.

So verlieren die von der Zivilisation verweichlichten Menschen in komplexen Gesellschaften ihren moralischen Kompass und werden dekadent, böswillig und leer. Der Allgemeine Wille wird fehlgeleitet. Dieser Zustand lässt sich laut Jean-Jacques Rousseau nur bekämpfen, indem ein weiser Gesetzgeber die Führung der Gesellschaft übernimmt, der die Stimme der Natur noch klar hören kann und der die verwirrten Individuen leitet und ihnen wieder eine klare Orientierung gib, damit sie im Einklang mit der Natur leben können. Um Gemeinschaft zu stiften, wird eine Staatsreligion verfügt, deren Rituale aus Individuen ein Ganzes machen. Quelle: „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies