Das Wort Unvorstellbarkeit beschreibt das Jahr 2020

Das neue Buch „Welt im Lockdown“ von Adam Tooze ist tiefenscharfe Analyse der Gegenwart. Und es ist ein Buch, aus dem man lernen kann, wie die globalisierte Welt funktioniert, in der die Menschheit heute lebt. Wenn es ein Wort gibt, das die Erfahrungen des Jahres 2020 zusammenfasst, dann wäre es Unvorstellbarkeit. Am 20. Januar gestand Xi Jinping öffentlich, dass in China ein Coronavirus ausgebrochen ist. Anschließend erschütterte eine Krankheit die Welt, die innerhalb von zwölf Monaten 2,2 Millionen Menschen tötete. Die Weltwirtschaft wankte. Um die Auswirkungen einzudämmen, nahm die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Märkte Ausmaße an, wie es sie außerhalb von Kriegszeiten noch nicht gegeben hatte. Adam Tooze lehrt an der Columbia University und zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart.

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Die Landwirtschaft existiert seit 12.000 Jahren

Landwirtschaft wird seit der neolithischen Revolution systematisch betrieben. Ihre Anfänge reichen bis etwa 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurück. Sie beruht eigentlich immer auf „Kulturpflanzen“, das heißt auf genetisch „manipulierten“ durch Züchtung und Kreuzung mit bestimmten Eigenschaften versehenen Sorten. Daniel Goeudevert erklärt: „Solche Verbesserungen zogen sich meist über viele Jahre, manchmal über Generationen hin und brachten eine Vielzahl regional ganz unterschiedlicher Sorten hervor.“ Diese waren den Bedingungen ihrer jeweiligen Umwelt – dem Klima, dem Nährstoffgehalt der Böden, dem Wasserhaushalt – zunehmend besser angepasst. Das alles war über Jahrtausende Sache der Landwirte, die ihre Felder mit den Pflanzen bebauten, die dort am besten gedeihen konnten. Und es war eine durch und durch gute Sache. Daniel Goeudevert war Vorsitzender der deutschen Vorstände von Citroën, Renault und Ford sowie Mitglied des Konzernvorstands von VW.

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Nietzsche ist von Schopenhauer begeistert

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt Friedrich Nietzsches Name überall in Europa zu erschallen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird er an Popularität mit Arthur Schopenhauer konkurrieren. Dieser zieht schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Zivilisation und Konversation in seinen Bann. Ger Groot stellt fest: „Auch Friedrich Nietzsche steht stark unter dem Eindruck Arthur Schopenhauers. Genau zu der Zeit, in der er aufwächst, Mitte des 19. Jahrhunderts, ist Arthur Schopenhauer in aller Munde.“ Friedrich Nietzsche liest ihn als Gymnasiast und ist sofort hellauf begeistert. In mancher Hinsicht wird seine Weltsicht bis ans Ende seiner Schaffenszeit davon gezeichnet bleiben. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Das Smartphone bestimmt das Leben

Berlin im Jahr 2020. Über das Smartphone verwalten und gestalten inzwischen viele Menschen ihr Leben. Andreas Barthelmess behauptet: „Nicht nur Musik und Messages und sonstigen Digitalkram, sondern unser gesamtes Leben. Wir haben es immer in der Tasche, immer dabei: unser Smartphone, unser Leben. Und so geht es nicht nur uns, sondern auch den Menschen in Madrid und Madras, Mumbai und Moskau.“ Im digitalen Zeitalter ist scheinbar alles immer und überall. Und mit dem Smartphone hat man zugleich immer alles in der Hand, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Alles ist immer überall und gleichzeitig supernah. Ist das Smartphone vielleicht inzwischen zu nah an die Menschen herangerückt? Die Antwort lautet: ja. Dabei muss man allerdings Digitalisierung, Netz und Smartphone differenzieren. Andreas Barthelmess ist Ökonom, Start-up-Unternehmer und Publizist.

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Heimat kann Geborgenheit vermitteln

Wilhelm Schmid stellt fest: „Liebende, die in einer Waldwiese versinken, folgen der Logik der Gefühle, die sie in sich verspüren. Vielleicht folgen sie jedoch auch der Logik der Landschaft, die sie zu Gefühlen ermuntert.“ Entgegen dem äußeren Anschein ist eine Umgebung nicht einfach nur da. Denn sie ruft auch Gedanken und Gefühle wach, regt etwa ein Verweilen an oder hält davon ab. Sie kann befremden oder die Geborgenheit einer Heimat vermitteln, sei es für die Liebe oder andere Tätigkeiten und Seinsweisen, momentan oder anhaltend. Manche Menschen halten Landschaft für völlig überwertet, nichts als Kulisse, aber es gibt kein Entrinnen. Leben ist immer Leben in einer Landschaft. Heimat ebenso. Die jeweilige Umgebung zu ignorieren dient allenfalls dazu, eine eventuelle Belastung durch sie abzumildern. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Eliten sehen sich als Avantgarde des Fortschritts

Im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels heißt es: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klassen.“ Jede Zeit hat ihre eigenen Eliten. Alexander Grau stellt fest: „Und ein wesentliches Signum von Eliten in modernen Massengesellschaften ist, dass sie eben nicht die Wenigen sind.“ Denn sie sind eine gegenüber Eliten vergangener Jahrhunderte vergleichsweise große Gruppe. In westlichen Industriegesellschaften handelt es sich dabei um zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen sind eng verbunden mit einem ganzen Bündel von gemeinsamen Werten. Deren gemeinsamer Nenner ist es, dass sich diese spätmodernen Eliten der europäischen Geschichte als dezidiert progressiv begreifen. Sie sehen sich nicht als Hüter des Ewigen, sondern als Speerspitze des Fortschritts. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

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Die Klimaerwärmung verursacht hohe Kosten

Aus ökonomischer Sicht spricht für Clemens Fuest wenig dafür, bei den Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels nachzulassen. Man sollte sich jedoch dabei stärker darauf konzentrieren, Klimaziele kosteneffizient zu erreichen und das Verursacherprinzip in den Vordergrund zur rücken. Dabei geht es darum, diejenigen, die den Klimawandel vorantreiben, finanzielle in die Verantwortung zu nehmen. Wirtschaftlich liegt die wichtigste Folge der Coronakrise darin, dass sie in allen betroffenen Ländern den Lebensstandard senkt. Clemens Fuest fordert: „Die Folgen dieses Wohlstandsverlusts für den Klimaschutz kann man ökonomisch aus zwei Perspektiven betrachten.“ Die erste Perspektive betrachtet den Klimaschutz als ein Gut, das bei steigendem Einkommen zunehmend nachgefragt wird. Diese Überlegung führt zu dem Ergebnis, dass künftig eher weniger Ressourcen als bisher geplant für den Klimaschutz eingesetzt werden sollten. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.

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Bilder existieren auf nichträumliche Weise

Das Sinnliche ist das Sein der Formen, wenn sie außerhalb sind, wie im Exil, fern des eigenen Ortes. Wie soll man sich diesen zusätzlichen Raum vorstellen, der das absolute Außen ist? Wegen ihrer Außenkörperlichkeit existieren Bilder auf nichträumliche Weise. Wenn ein Spiegel unser Bild aufnimmt, schreibt Albertus Magnus, nimmt er weder an Gewicht noch an Volumen zu. Emanuele Coccia ergänzt: „Während ein Körper Tiefe besitzt, existiert das Bild im Spiegel, ohne sich von dessen Oberfläche abzuheben.“ Das Sein des Sinnlichen, das Bild-sein, determiniert also keinerlei räumliche Existenz. Emanuele Coccia hält fest: „Ein Bild ist das Entweichen einer Form aus dem Körper, dessen Gestalt es ist. Ohne dass diese äußerliche Existenz eines anderen Körpers oder eines anderen Gegenstands determinieren kann.“ Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Kevin Dutton plädiert für eine Welt der Grautöne

Kevin Dutton legt in seinem neuen Buch „Schwarz. Weiß. Denken!“ die evolutionären und kognitionspsychologischen Grundlagen des menschlichen binären Denkens dar. Außerdem zeigt er, wie man den Grautönen wieder zu ihrem Recht verhelfen kann. Kevin Dutton ist sich sicher: „Wenn wir uns unserer Anlagen bewusst werden, können wir künftig nuanciertere und klügere Entscheidungen treffen.“ Der Autor gibt seinen Lesern hervorragende Hilfsmittel an die Hand, die sie vor Beeinflussung schützen und ihnen dabei helfen, selbst überzeugender aufzutreten. Kevin Dutton weist darauf hin, dass das Schwarz-Weiß-Denken unübersehbare gefährliche Folgen hat. Die Unterschiede zwischen gegensätzlichen Meinung vergrößern sich. Zudem gedeihen der Populismus, der Extremismus und der Rassismus in nicht für möglich gehaltener Stärke. Die Fähigkeit der Menschen zu rationalem Denken beginnt zu schwinden. Kevin Dutton ist Forschungspsychologe an der University of Oxford und Mitglied der British Psychological Society.

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Wissen und Institutionen sorgen für Wohlstand

Joseph Stiglitz hat den eigentlichen Ursprung des Wohlstands der Nationen beschrieben. Er beruht auf Wissen und Erkenntnisgewinn sowie den gesellschaftlichen Institutionen, welche die Menschen geschaffen haben. Diese dienen nicht nur dem friedlichen Zusammenleben, sondern auch der Kooperation, die dem allgemeinen Wohl zugutekommt. Jedoch gibt es eine alternative, ältere und weiter verbreitete Theorie über den Ursprung des Wohlstands der Nationen. Diese war in den letzten vierzig Jahren in den USA sehr einflussreich. Nämlich die Auffassung, eine Volkswirtschaft funktioniere dann besonders gut, wenn Dinge vollständig oder größtenteils uneingeschränkten Märkten überlassen werden. Ihre Verfechter haben keine Wahrheiten an sich infrage gestellt. Wie ein guter Zauberkünstler konzentrierten sie sich auf die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

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Politik beginnt mit dem Akt des Loslassens

Eine These von Ned O’Gorman lautet, dass Politik – genau wie elterliche Liebe – mit dem Akt des Loslassens beginnt. Nämlich mit dem Verzicht auf Kontrolle, sodass einer dem anderen nicht als Herr oder Diener, sondern als Gleicher gegenübertritt. Viele Menschen sind daran gewöhnt, Gleichheit und Freiheit für die Ziele politischen Aktivismus zu halten. Ned O’Gorman argumentiert, dass sie der Anfang von Politik sind und Politik ohne sie nicht möglich ist. Zudem fordert er, dass die Menschen zueinander als Gleichgestellte in Beziehung treten müssen. Nicht alle Beziehungen erfüllen jedoch diese Voraussetzung. Man könnte sogar sagen, dass es die meisten nicht tun. Dennoch stellt sich Gleichheit ein. Wenn Menschen einander gleichberechtigt behandeln, treten sie in eine freiheitliche Beziehung. Ned O’Gorman ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois.

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Die große Lüge ist auf Gewalt angewiesen

Von George Orwell bis Arthur Koestler waren europäische Autoren des 20. Jahrhunderts besessen vom Gedanken der großen Lüge. Dabei handelt es sich um das ideologische Gebäude des Kommunismus und des Faschismus. Da gab es die Plakate, die Treue gegenüber Partei und Führer verlangten, die marschierenden Braun- und Schwarzhemden, die Fackelzüge und die Geheimpolizei. Anne Applebaum weiß: „Die große Lüge war derart absurd und unmenschlich, dass sie nur mit Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten war.“ Sie verlangte Zwangsbildung, absolute Kontrolle über die Natur und die Instrumentalisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts brauchen dagegen keine Massenbewegung. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Recht und Moral sind nicht deckungsgleich

Moral und Recht hängen zwar zusammen, sind aber weit davon entfernt, deckungsgleich zu sein. Markus Gabriel erläutert: „Die Geltung rechtlicher Normen, ihre Macht über Akteure, besteht selbst dann fort, wenn die faktische Rechtsprechung und die ihr zugrunde liegenden Gesetze erkennbar unmoralisch sind.“ Stalinistische Schauprozesse waren „rechtlich legal“, auch wenn man sie für „moralisch illegitim“ hält. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Legalität und Legitimität. Die Moral artikuliert Regeln, die konkret festlegen, welche Handlungen verboten und welche erlaubt sind. Auf diese Weise kann man exakt zwei Extrempunkte, zwei Pole, und eine moralische Mitte markieren. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Politische Gleichheit besteht aus 5 Phänomenen

Politische Gleichheit besteht laut Danielle Allen aus folgenden Phänomenen. Aus Herrschaftsfreiheit, gleichberechtigtem Zugang zum Regierungsapparat und epistemischer Egalitarismus. Dazu kommen gleiche, sich auf Praktiken der Gegenseitigkeit stützende Handlungsmacht sowie Mitgestaltung von und Miteigentümerschaft an den politischen Institutionen und deren weiteren Auswirkungen. Wenn man der Argumentation des irischen Politikwissenschaftlers Philip Pettit folgt, heißt Herrschaftsfreiheit im Sinne von Nichtbeherrschung, dass keine willkürliche Einmischung, kein Kontrollvorbehalt droht. In seinem Buch „Gerechte Freiheit“ erklärt Philip Pettit Herrschaftsfreiheit unter Bezugnahme auf den Ausdruck „freie Hand lassen“. Herrschaftsfreiheit setzt mehr voraus als den bloßen Schutz des Grundrechts, dass man seine Religion, politische Partei, Vereinigungen und Arbeitsstelle frei wählen kann. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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Die Fortpflanzung ist ein genetischer Zwang

Eine Spezies nutzt grundsätzlich alle für sie geeigneten Ressourcen, um zu expandieren. Vermehrung und Ausbreitung enden erst, wen die Ressourcen erschöpft sind und der Umweltwiderstand zu groß wird. Dirk Steffens und Fritz Habekuss wissen: „Dabei ist Fortpflanzung keine Option, sondern ein genetischer Zwang. Soweit gilt das für alle Arten. Auch für Homo sapiens.“ Die Menschen sind in Sachen Vermehrung aber sogar außergewöhnlich erfolgreich. In seinem Buch „Das Ende der Evolution“ stellt der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht fest: „Was uns von Schimpansen und Gorillas oder gar vom Orang-Utan trennt, und zwar um mehrere Größenordnungen, ist die Anzahl unseres Nachwuchses.“ In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.

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Jeder Mensch muss sich selbst erziehen

Seneca schreibt: „Von nirgendwo nämlich kommt der Seele mehr Kraft zu als von der Wissenschaft und der Betrachtung der Natur.“ So wichtig es auch ist, sich selbst und die Welt besser zu verstehen und rational zu erschließen, so reicht es nach Seneca nicht aus, wenn nicht gleichzeitig das Gemüt gestärkt wird. Albert Kitzler erläutert: „Erkenntnis und innere Überzeugung mögen das wichtigste Moment in der Motivationskette sein, die uns dazu bewegt, unser Verhalten und unsere Lebensweise, wo es nötig ist, zu verändern.“ Aber der Mensch ist nicht bloß Kopf und Verstand. All die leiblichen, triebhaften, unbewussten Kräfte in einem Menschen, der Bauch also, müssen auch „überzeugt“ werden. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Es gibt nicht die eine deutsche Geschichte

Helmut Walser Smith beschreibt in seinem neuen Buch „Deutschland“ die Geschichte der deutschen Nation von 1500 bis in die Gegenwart. Dabei hält er die Idee des Nationalstaats und die Ideologie des Nationalismus hellsichtig auseinander. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeit stoßen in seinem Werk hart aufeinander. Die nationalistischen Exzesse des Dritten Reichs im 20. Jahrhundert schildert Helmut Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos. Seine klugen Gedanken über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit reichen bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist das Buch eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Der Staat muss legitime Rechte garantieren

Der Staat muss Gerechtigkeit walten lassen, die Zivilgesellschaft kann sich Solidarität erlauben. Heinz Bude erläutert: „Gerechtigkeit bedeutet dabei die Zuerkennung legitimer Anrechte. Dafür existieren rationale Verfahren. Diese legen fest, was einem in einer bestimmten Lage zusteht und wofür man selbst geradestehen muss. Es gibt Menschen, die mit ihrer vollzeitigen und unbefristeten Beschäftigung noch unter dem offiziell errechneten Existenzminimum bleiben. Diese können mit einer Aufstockung ihres Einkommens durch einen staatlichen Zuschuss rechnen, der sie noch etwas über den Betrag der Mindestsicherung hebt. Es ist ungerecht, dass man von seinem Verdienst in einem Knochenjob wie der Gebäudereinigung nicht leben und nicht sterben kann. Ebenso ungerecht ist es, wenn man ohne Arbeit genauso viel Geld in der Tasche hätte wie mit Arbeit. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

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Der Literaturkalender 2022 weckt Erinnerungen

Diesmal dreht sich im „Literatur Kalender 2022“ alles um Momente der Erinnerung, die manchmal Haltepunkte im Leben sind. Dabei kann es sich um eine Reise, eine vergangene Liebe, ein wichtiges Gespräch oder einen Sonnenuntergang am Meer handeln. Einen Moment lang befindet sich der Erinnernde an einem anderen Ort, sei es das Haus der Kindheit, versunken in eine Melodie oder in ein Buch. Erinnerungen sind manchmal glücklich, können jedoch auch tief traurig sein. Wie zum Beispiel diese Zeilen aus dem Gedicht „Du hast Spanien gehasst“ von Ted Hughes, des Mannes von Sylvia Plath. Er veröffentlichte es in seinen „Birthday Letters“ 35 Jahre nach ihrem Suizid und kurz vor seinem eigenen Tod: „ …Ich sehe dich im Mondlicht, Den leeren Kai von Alicante entlanggehen, Wie eine Seele, die auf die Fähre wartet, Eine neue Seele, die noch immer nicht versteht, Die denkt, es sei noch immer deine Hochzeitsreise In der glücklichen Welt, dein ganzes Leben noch vor dir, Glücklich, und alle deine Gedichte warteten noch auf dich.“

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Menschen stehen zu Dingen in Wertbeziehungen

Vieles ist für einen Menschen schon deshalb so werthaltig, weil er es gemacht hat. Selbst gemalte Bilder und selbst gemachte Erfahrungen ziehen ihren ganz besonderen Wert aus der eigenen Subjektivität, die in ihnen steckt. Richard David Precht ergänzt: „Und etwas ganz besonders gut gemacht zu haben hebt sowohl meinen Selbstwert als auch den Wert der Tätigkeit.“ Dass Menschen zu den Dingen ihrer Welt in „Wertbeziehungen“ stehen, war das Lebensthema des Phänomenologen Max Scheler. Für ihn war das Empfinden von Werten ebenso natürlich gegeben wie das Sehen von Farben. Ob Werte oder Farben, wenn man sie sinnlich empfindet, hat man nicht die Wahl, sie nicht zu fühlen. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Der Stammtisch ist öffentlich geworden

Wer in der Kneipe am Stammtisch sagt, was man am Stammtisch so mal sagt, der erntet Beifall. Denn er spricht mit Gleichgesinnten in privatem Kreis. Roger de Weck betont: „Via soziale Medien ist nun aber der Stammtisch öffentlich geworden. Das hat diesen Treffpunkt des gesunden oder verderblichen Volksempfindens, der guten und unguten Bauchgefühle, der falschen Klarheiten und veritablen Klischees aufgewertet.“ Einst errangen Wahlkämpfer im Landgasthof die Lufthoheit über die Stammtische. Doch nun beansprucht der digitale Stammtisch selbst die hoheitliche Legitimität, als verkörpere er den Willen der Mehrheit im Land. Die „Sorgen der Bürger“ solle man endlich ernst nehmen, schallt es von allen Seiten. Auf einmal gilt es als heilsam, ja demokratisch, wenn haltlose Anwürfe, niedrige Instinkte und unsinnige Meinungen breiten Ausdruck finden. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Menschen begehren Anerkennung durch andere

Ökonomen nehmen an, dass Menschen von Präferenzen oder Nützlichkeiten motiviert werden, von Wünschen nach materiellen Mitteln oder Gütern. Dabei vergessen sie jedoch den Thymos. Dabei handelt es sich um denjenigen Teil der Seele, der Anerkennung durch andere begehrt. Dies geschieht entweder in Form von Isothymia, dem Streben, die gleiche Würde wie die Mitmenschen zu empfangen. Oder vollzieht sich in der Form von Megalothymia, dem Bedürfnis, im Vergleich mit anderen als überlegen zu gelten. Francis Fukuyama erklärt: „Ein großer Teil dessen, was wir normalerweise für eine wirtschaftliche, von materiellen Bedürfnissen oder Wünschen ausgelöste Motivation halten, ist in Wirklichkeit ein thymotisches Verlagen nach Anerkennung der eigenen Würde oder des eigenen Status.“ Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Das Universelle hat zwei Bedeutungen

François Jullien kennt den Unterschied zwischen dem Universellen, dem Gleichförmigen und dem Gemeinsamen. Das Universelle hat dabei für den französischen Philosophen zwei Bedeutungen. Da ist einerseits eine konstative, man könnte sagen schwache Bedeutung, die sich auf die Erfahrung beschränkt: „Soweit wir bisher beobachten konnten, stellen wir fest, das etwas immer so gewesen ist.“ In diesem Sinne bezieht sich der Begriff auf das Allgemeine. Das Universelle besitzt jedoch auch eine starke Bedeutung, nämlich die der universellen Gültigkeit im genauen oder strengen Sinn – sie ist es, woraus man in Europa eine Forderung des Denkens gemacht hat. François Jullien erläutert: „Wir behaupten von vornherein, noch vor aller Bestätigung durch die Erfahrung, dass eine bestimmte Sache so sein muss.“ François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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Es ist eine neue Unterklasse entstanden

Spiegelbildlich zum Aufstieg der neuen Akademikerklasse ist eine neue Unterklasse entstanden. Denn die Expansion einfacher Dienstleistungsberufe und einer neuen geringqualifizierten Dienstleistungsklasse ist ein ebenso wichtiges Merkmal der postindustriellen Sozialstruktur. Andreas Reckwitz stellt fest: „Die neue Unterklasse insgesamt ist eine durchaus heterogene Gruppe von einfachen Dienstleistern, semiqualifizierten Industrieberufen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern.“ Diese machen gegenwärtig ebenfalls etwa bis zu einem Drittel der westlichen Bevölkerung aus. Sie bewegt sich hinsichtlich ihres Einkommens, Vermögens und sozialen Status deutlich unterhalb des Niveaus der alten Mittelstandsgesellschaft. Die gesellschaftlichen Ursachen für ihre Entstehung sind spiegelbildlich zu jenen, welche die Ausbildung der neuen Mittelklasse befördern. Die Umwälzung zur postindustriellen Ökonomie bedeutet beispielsweise eine rapide Erosion der Industriearbeiterschaft. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität

Geschichtlich steht die Sensibilisierung für Fortschritt. Viele Menschen schützen sich wechselseitig in ihrer Verletzlichkeit und werden empfänglicher für eigene und fremde Gefühle. Sie lernen sich in andere Schicksale hineinzuversetzen. Svenja Flaßpöhler weist in ihrem neuen Buch „Sensibel“ jedoch darauf hin, dass diese Entwicklung auch eine Kehrseite hat: „Anstatt uns zu verbinden, zersplittert die Sensibilität die Gesellschaft.“ Die Autorin erzählt die Geschichte des sensiblen Selbst aus einer philosophischen Perspektive. Dabei beleuchtet sie die zentralen Streitfragen der Zeit und arbeitet den Grund für die prekäre Schieflage heraus. Weil die Widerstandskraft bis heute mit kalter Verpanzerung assoziiert wird, gilt sie als Feindin der Sensibilität. Svenja Flaßpöhler durchleuchtet die Sensibilität dialektisch und kommt zu dem Schluss: „Die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können wir nur gemeinsam.“ Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

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