Marcel Fratzscher stellt fest: „Deutschland ist zweifellos eines der reichsten Länder der Welt mit der höchsten Produktivität der Beschäftigten und Unternehmen. Die Löhne und Einkommen sind daher im internationalen Vergleich hoch. Aber die Lebenshaltungskosten sind ebenfalls hoch. Und sie sind durch steigende Mieten gerade in den Städten in den vergangenen Jahren für Beschäftigte mit geringen Einkommen nochmals deutlich gestiegen. Ungewöhnlich viele Menschen können also nicht sparen, weil sie ihr komplettes monatliches Einkommen für ihren Lebensunterhalt benötigen. Bei den Markteinkommen, also den monatlichen Einkommen vor Steuern und Abgaben, ist die Ungleichheit in Deutschland im internationalen Vergleich recht hoch. Sie liegt im oberen Drittel aller Industrieländer. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Deutschland hat die größten Niedriglohnsektoren in Europa
Aber richtig ist auch: Ein starker Sozialstaat verteilt über zahlreiche Maßnahmen vergleichsweise viel um. Deshalb liegt die Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen im Durchschnitt der Industrieländer. Es ist daher erforderlich, sich die Entwicklung bei Löhnen und Einkommen im Detail anzuschauen. Hier zeigen sich vor allem zwei Dinge. Erstens, dass die Ungleichheit der Einkommen in den letzten vierzig Jahren in Deutschland stark zugenommen hat. Und zweitens, dass hierzulande über die Jahre einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen wurde.
Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist heute so hoch wie vor hundert Jahren und höher als jemals sonst in der Nachkriegszeit. Marcel Fratzscher erläutert: „Die Fakten sprechen eine klare Sprache: Zwar hat die Ungleichheit zwischen den Staaten abgenommen. Schwellenländer wie China haben aufgeholt und so den Abstand zu den reichen Ländern in Europa und Nordamerika verringert. Aber innerhalb der Gesellschaften ist die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen seit den 1960er-Jahren fast überall massiv gewachsen. Seitdem sind die Einkommen der unteren Hälfte im Vergleich zur oberen Hälfte gesunken, statt zu steigen.“
Die Politik leidet an Kurzsichtigkeit
Eine Erklärung für die Zunahme der Ungleichheit liegt in der Privatisierung öffentlicher Vermögen wie Immobilien, Grundstücken und staatlicher Unternehmen. Zwar ist eine solche Privatisierung nicht per se schlecht, da private Unternehmen häufig besser und effizienter wirtschaften und innovativer sind als eine staatliche Planwirtschaft. Aber nach einer Privatisierung ist meistens nicht sichergestellt, dass die Bürger eine Teilhabe am Erfolg der privaten Unternehmen haben.
Auch der technologische Wandel hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem Anstieg der Ungleichheit beim Einkommen und Vermögen beigetragen. Gleichzeitig kam es zu einer Polarisierung der Arbeitswelt. Denn Menschen mit guter Qualifikation und Netzwerken konnten diesen Wandel in einer zunehmend globalisierten Welt für sich nutzen. Die schlechter qualifizierten und weniger vernetzten konnten das eher nicht. Marcel Fratzscher stellt fest: „Dies ist allerdings keine zwangsläufige Folge der Globalisierung, sondern spiegelt das Scheitern einer kurzsichtigen Politik wider.“ Quelle: „Geld oder Leben“ von Marcel Fratzscher
Von Hans Klumbies