Bilder existieren auf nichträumliche Weise

Das Sinnliche ist das Sein der Formen, wenn sie außerhalb sind, wie im Exil, fern des eigenen Ortes. Wie soll man sich diesen zusätzlichen Raum vorstellen, der das absolute Außen ist? Wegen ihrer Außenkörperlichkeit existieren Bilder auf nichträumliche Weise. Wenn ein Spiegel unser Bild aufnimmt, schreibt Albertus Magnus, nimmt er weder an Gewicht noch an Volumen zu. Emanuele Coccia ergänzt: „Während ein Körper Tiefe besitzt, existiert das Bild im Spiegel, ohne sich von dessen Oberfläche abzuheben.“ Das Sein des Sinnlichen, das Bild-sein, determiniert also keinerlei räumliche Existenz. Emanuele Coccia hält fest: „Ein Bild ist das Entweichen einer Form aus dem Körper, dessen Gestalt es ist. Ohne dass diese äußerliche Existenz eines anderen Körpers oder eines anderen Gegenstands determinieren kann.“ Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Das Bild kann sich an das Medium anlehnen

Das Gegenständliche, Körperliche ist jetzt sein neuer Ort, sein Substrat – aber keine Eigenschaft. Das bedeutet, dass die Inhärenz oder Immanenz des Spiegelbildes nicht mehr wesentlich durch Quantität determiniert ist. Die Philosophen des Mittelalters argumentierten wie folgt: „Wenn man eine Spiegel in zehn Stücke zerteilt findet man in jedem beliebigen jener Stücke das vollständige Spiegelbild wieder. Nicht nur einen Teil davon.“

Und in den Spiegelteilen ist das Bild jeweils nicht kleiner als im ganzen Spiegel. Das Bild, das Sinnliche, besitzt also die Fähigkeit, sich an die Materie, an das Medium anzulehnen. Dies geschieht allerdings nicht auf extensive Weise. Seine Inhärenz hängt nicht von der Extension des Mediums ab. Genauer: Das Sinnliche ist das, was ein vollkommen akzidentelles Verhältnis zur Größe hat. Deshalb kann eine quantitative Veränderung des Bildes niemals dessen Natur verändern.

Das Sinnliche ist das Unteilbare

Ein Bild kann seine Ausmaße vergrößern oder verkleinern. Es wird sich aber niemals in Einzelteile aufteilen, zerteilen, scheiden lassen. Das Sinnliche ist das Unteilbare, ein Intensivum, das sich rein akzidentell an die Extension koppelt. Eben darum, weil die Bilder die Fähigkeit besitzen, sich nicht nach dem Modus der Extension niederzulassen, sind sie überall. Sie sind in der Luft, auf dem Wasser, auf dem Glas, auf dem Holz. Sie leben an der Oberfläche der Körper, ohne sich mit ihnen zu vermischen.

Die Existenz des Sinnlichen determiniert sich nicht durch das Vermögen einer spezifischen Materie. Sondern sie wird bestimmt durch die Fähigkeit der Form, außerhalb ihres natürlichen Habitats existieren zu können. Das Leben der Spiegelbilder, argumentieren schließlich die Scholastiker, determiniert eine vollkommen substanzlose Existenzform. Der Spiegel, der Bilder aufnimmt, verändert weder seine Identität noch seine Natur noch seine Substanz. Quelle: „Sinnenleben“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies

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