Eliten sehen sich als Avantgarde des Fortschritts

Im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels heißt es: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klassen.“ Jede Zeit hat ihre eigenen Eliten. Alexander Grau stellt fest: „Und ein wesentliches Signum von Eliten in modernen Massengesellschaften ist, dass sie eben nicht die Wenigen sind.“ Denn sie sind eine gegenüber Eliten vergangener Jahrhunderte vergleichsweise große Gruppe. In westlichen Industriegesellschaften handelt es sich dabei um zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen sind eng verbunden mit einem ganzen Bündel von gemeinsamen Werten. Deren gemeinsamer Nenner ist es, dass sich diese spätmodernen Eliten der europäischen Geschichte als dezidiert progressiv begreifen. Sie sehen sich nicht als Hüter des Ewigen, sondern als Speerspitze des Fortschritts. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Die Eliten entfremden sich von der Kultur ihrer Herkunft

Das ist in dieser Eindeutigkeit tatsächlich neu und in seine gesellschaftlichen Konsequenzen dramatisch. Es erklärt aber ganz gut die sozialen, aber vor allem auch kulturellen Prozesse der letzten Jahrzehnte. Die Eliten des 19. Jahrhunderts waren noch weitgehend konservativ. Die neuen Eliten verstehen sich vor allem als Exekutive der Moderne oder zumindest dessen, was als modern angesehen wird. Diese Entwicklung wird dadurch erleichtert, dass die Zugehörigkeit zu den neuen Eliten sich weniger über harte ökonomische Fakten definiert, sondern über das kulturelle Kapital.

Indem sich die neuen Eliten vor allem über ihre Modernität und ihre Regressivität verstehen, entfremden sie sich von den kulturellen Wurzeln ihrer jeweiligen Herkunft. Die neuen kulturellen Trennlinien zwischen den Lebenswelten laufen nicht länger vertikal zwischen den regionalen Kulturen, sondern horizontal. Der Habitus dieser Elite wird nicht bestimmt durch die Traditionen ihrer Heimat und Herkunft. Sondern ist geprägt durch die Regeln, die Moden, die Denkungsart und den Lifestyle ihrer global präsenten Klasse.

Die aktuelle Elitenkritik gleicht einem Kulturkampf

Das führt laut Alexander Grau zwangsläufig zu Konflikten mit jenen Menschen, die in der diachron und räumlich verorteten Welt leben. Denn diese leben nicht nur andere Werte. Der Dissens besteht schon hinsichtlich der Grundlage der jeweiligen Werte, Ideale und Ziele. War bis weit hinein in das 20. Jahrhundert Kritik an den Eliten im Grunde nichts anderes als Kritik an deren ökonomischen und sozialen Privilegien, so hat die aktuelle Elitenkritik heutzutage Züge eines Kulturkampfes.

In der Gegenwart geht es nicht um ökonomische Ausbeutung, um Chancengleichheit oder auch nur Gerechtigkeit. Heute geht es um kulturelle Deutungshoheit. Auch wollen die modernen Eliten nicht mehr elitär sein, sondern geben sich allein schon äußerlich lässig, jugendlich und sportlich. Der Unwille der modernen Eliten, Elite zu sein, entschärft den Kulturkonflikt aber keinesfalls. Im Gegenteil entsteht ein Egalitätsanspruch, der die faktisch vorhandenen normativen Differenzen noch pointierter hervortreten lässt. Quelle: „Wo wir sind, ist vorne“ von Alexander Grau in Philosophicum Lech, Band 23 „Die Werte der Wenigen“

Von Hans Klumbies