Ökonomen nehmen an, dass Menschen von Präferenzen oder Nützlichkeiten motiviert werden, von Wünschen nach materiellen Mitteln oder Gütern. Dabei vergessen sie jedoch den Thymos. Dabei handelt es sich um denjenigen Teil der Seele, der Anerkennung durch andere begehrt. Dies geschieht entweder in Form von Isothymia, dem Streben, die gleiche Würde wie die Mitmenschen zu empfangen. Oder vollzieht sich in der Form von Megalothymia, dem Bedürfnis, im Vergleich mit anderen als überlegen zu gelten. Francis Fukuyama erklärt: „Ein großer Teil dessen, was wir normalerweise für eine wirtschaftliche, von materiellen Bedürfnissen oder Wünschen ausgelöste Motivation halten, ist in Wirklichkeit ein thymotisches Verlagen nach Anerkennung der eigenen Würde oder des eigenen Status.“ Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Frauen rücken selten in höhere Führungspositionen auf
Francis Fukuyama wirft einen Blick auf die Frage des gleichen Lohns für gleiche Arbeit, die seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Frauenbewegung steht. Obwohl Frauen auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen 50 Jahren große Fortschritte erzielt haben, ist die gläserne Decke unverkennbar. Diese hindert sie daran, in höhere Führungspositionen oder, seit jüngerem, in die oberen Etagen von Tech-Firmen im Silicon Valley aufzurücken. Die Tagesordnung des modernen Feminismus bestimmen nicht in erster Linie die Frauen aus der Arbeiterschaft.
Die Agenda bestimmen gut ausgebildeten Expertinnen, die den Gipfel der sozialen Hierarchie erklimmen wollen. Was ist in dieser Gruppe das wahre Motiv für den Anspruch auf gleiche Bezahlung? Es ist nicht im herkömmlichen Sinne wirtschaftlicher Art. Vielmehr hat der Ärger der Frauen weniger mit der geringeren Bezahlung als mit Gerechtigkeit zu tun. Das Gehalt, das die Frau von der Firma bezieht, ist nicht deshalb wichtig, weil es ihr die erforderlichen Mittel verschafft, sondern weil es als Gradmesser der Würde dient.
Das Gehalt ist ein Gegenstand der Anerkennung
Die Botschaft der Firma lautet nämlich, dass sie weniger wert ist als ein Mann, obwohl ihre Qualifikationen und Leistungen gleichartig oder sogar besser sind. Francis Fukuyama weiß: „Das Gehalt ist ein Gegenstand der Anerkennung. Sie wäre genauso gekränkt, wen sie zwar die gleiche Bezahlung erhielte, dafür aber auf einen begehrten Titel verzichten müsste, nur weil sie eine Frau ist.“ Die Verbindung zwischen wirtschaftlichem Interesse und Anerkennung machte Adam Smith, der Begründer der neuzeitlichen Volkswirtschaftslehre, als einer der ersten deutlich.
Schon im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts beobachtete er, dass die Armen das Lebensnotwendige besaßen und nicht unter schwerer materieller Entbehrung litten. Ihr Streben nach Wohlstand hatte einen anderen Grund: „Der Arme auf der anderen Seite schämt sich seiner Armut. Er fühlt, dass sie ihn entweder aus dem Gesichtskreis der Menschen ausschließt, oder dass diese doch, wenn sie irgend Notiz von ihm nehmen, kaum irgendwelches Mitgefühl mit dem Elend und der Not haben, die er erduldet.“ Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama
Von Hans Klumbies