Politik beginnt mit dem Akt des Loslassens

Eine These von Ned O’Gorman lautet, dass Politik – genau wie elterliche Liebe – mit dem Akt des Loslassens beginnt. Nämlich mit dem Verzicht auf Kontrolle, sodass einer dem anderen nicht als Herr oder Diener, sondern als Gleicher gegenübertritt. Viele Menschen sind daran gewöhnt, Gleichheit und Freiheit für die Ziele politischen Aktivismus zu halten. Ned O’Gorman argumentiert, dass sie der Anfang von Politik sind und Politik ohne sie nicht möglich ist. Zudem fordert er, dass die Menschen zueinander als Gleichgestellte in Beziehung treten müssen. Nicht alle Beziehungen erfüllen jedoch diese Voraussetzung. Man könnte sogar sagen, dass es die meisten nicht tun. Dennoch stellt sich Gleichheit ein. Wenn Menschen einander gleichberechtigt behandeln, treten sie in eine freiheitliche Beziehung. Ned O’Gorman ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois.

Freiheit ist ein Merkmal von Beziehungen

Diese Freiheit ist natürlich nicht gänzlich und absolut. Ned O’Gorman stellt fest: „Niemand ist absolut frei – das ist eine idealistische Vorstellung. Wir sind durch unseren Körper und Geist eingeschränkt.“ Immer wieder ist man gezwungen, seine körperlichen und sozialen Grundbedürfnisse zu stillen. Dazu zählt die Zubereitung von Essen, genügend Schlaf, pünktlich zur Arbeit zu gehen, sich um bedürftige Familienmitglieder zu kümmern und so weiter.

Und es gibt viele Menschen und Kräfte da draußen, die aktiv versuchen, ihre Mitmenschen zu kontrollieren, sie auszubeuten und ihre Freiheit einzuschränken. Dennoch: Genau wie Gleichheit stellt auch die Freiheit sich ein. Freiheit, so eine These von Ned O’Gorman, ist kein Zustand des Seins, sondern ein Merkmal des Zusammenseins mit anderen. Sie ist ein Merkmal von Beziehungen. Gleichheit und Freiheit sind dabei abhängig von ständig neuen menschlichen Entscheidungen und Verhaltensweisen. Nicht untergeordnet sind sie der Natur, der Gesellschaft oder der Marktwirtschaft.

Politische Beziehungen sind etwas Besonderes

Freiheit und Gleichheit sind zwar Tatsachen des menschlichen Lebens, müssen aber stets aufs Neue aktiv gewählt werden. Denn sie sind nicht die einzigen Tatsachen des menschlichen Lebens. Es gibt genügend Unterdrückung oder schlicht notwendige andere Tatsachen. Freiheit und Gleichheit muss man daher gezielt wählen. Und genau darum drehen sich von viele politische Auseinandersetzungen in der Geschichte der Menschheit. Politik ist letztlich die Kunst, in Freiheit und Gleichheit mit anderen zusammenzuleben.

Politische Beziehungen sind für Ned O’Gorman etwas Besonderes. Sie stellen sich ein, wann immer zwei oder mehr Menschen miteinander in Gleichheit und Freiheit in Beziehung treten. Dies wiederum führt zu einer Form menschlicher Macht, die man politische Macht nennt. Solche Beziehungen entwickeln sich nicht automatisch. Man muss sie gezielt verfolgen, wie man sich in einem Handwerk oder einer Kunst übt. Es gibt viele Ungerechtigkeiten und Verzerrungen, die Politik zu etwas anderem als der Kunst freiheitlicher, gleicher Beziehungen pervertieren können. Quelle: „Politik für alle“ von Ned O’Gorman

Von Hans Klumbies