Die große Lüge ist auf Gewalt angewiesen

Von George Orwell bis Arthur Koestler waren europäische Autoren des 20. Jahrhunderts besessen vom Gedanken der großen Lüge. Dabei handelt es sich um das ideologische Gebäude des Kommunismus und des Faschismus. Da gab es die Plakate, die Treue gegenüber Partei und Führer verlangten, die marschierenden Braun- und Schwarzhemden, die Fackelzüge und die Geheimpolizei. Anne Applebaum weiß: „Die große Lüge war derart absurd und unmenschlich, dass sie nur mit Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten war.“ Sie verlangte Zwangsbildung, absolute Kontrolle über die Natur und die Instrumentalisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts brauchen dagegen keine Massenbewegung. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Lügen spalten die Gesellschaft

Sie besitzen keine allumfassende Ideologie und benötigen daher keine Gewalt und keine Geheimpolizei. Selten arbeiten sie mit Propaganda, die im krassen Widerspruch zur Alltagswirklichkeit der Menschen steht. Statt der großen Lüge verwenden sie die „mittelgroße Lüge“, wie der Historiker Timothy Snyder sie in einem Gespräch mit Anne Applebaum nannte. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Anhänger zumindest zeitweise eine alternative Realität vertreten.

Gelegentlich ergibt sich diese alternative Realität spontan. Doch meist wird sie mithilfe moderner Marketingtechniken, Zielgruppenanalysen und Social-Media-Kampagnen sorgfältig lanciert. Amerikaner wissen nur zu gut, wie Lügen die Gesellschaft spalten und Fremdenfeindlichkeit schüren können. Lange bevor Donald Trump als Präsident kandierte, betrat er die politische Bühne mit der frei erfundenen Behauptung, Barack Obama sei nicht in den Vereinigten Staaten zur Welt gekommen. Dabei handelte es sich um eine Verschwörungstheorie, deren Tragweite seinerzeit vollkommen unterschätzt wurde.

Jede Verschwörungstheorie enthält ein Körnchen Wahrheit

Auch in Polen und Ungarn setzte man die mittelgroße Form der Lüge in Form einer Verschwörungstheorie zuerst im Wahlkampf ein. Anschließend praktizierte sie die Regierung mit der ganzen Wucht eines modernen Staatsapparates. Anne Applebaum erklärt: „In Ungarn ist diese Lüge nicht sonderlich originell und wird auch von der russischen und vielen anderen Regierungen verbreitet.“ Es ist die Behauptung, der ungarisch-jüdische Milliardär George Soros verfügt über schier unmenschliche Kräfte und plane, Ungarn durch den Import von Migranten zu zerstören.

Wie andere erfolgreiche Verschwörungstheorien enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit. Tatsächlich schlug George Soros während der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 vor, das reiche Europa solle in einer humanitären Geste mehr Syrer aufnehmen, um die ärmeren Länder des Nahen Ostens zu entlasten. Doch die Propaganda in Ungarn und auf zahllosen rechtsextremen und identitären Websites in Europa und den USA geht weit darüber hinaus. Sie stellt George Soros als Kopf einer jüdischen Verschwörung dar. Diese verfolge den Plan, weiße, europäische Christen durch dunkelhäutige Muslime zu ersetzen. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies