Der Stammtisch ist öffentlich geworden

Wer in der Kneipe am Stammtisch sagt, was man am Stammtisch so mal sagt, der erntet Beifall. Denn er spricht mit Gleichgesinnten in privatem Kreis. Roger de Weck betont: „Via soziale Medien ist nun aber der Stammtisch öffentlich geworden. Das hat diesen Treffpunkt des gesunden oder verderblichen Volksempfindens, der guten und unguten Bauchgefühle, der falschen Klarheiten und veritablen Klischees aufgewertet.“ Einst errangen Wahlkämpfer im Landgasthof die Lufthoheit über die Stammtische. Doch nun beansprucht der digitale Stammtisch selbst die hoheitliche Legitimität, als verkörpere er den Willen der Mehrheit im Land. Die „Sorgen der Bürger“ solle man endlich ernst nehmen, schallt es von allen Seiten. Auf einmal gilt es als heilsam, ja demokratisch, wenn haltlose Anwürfe, niedrige Instinkte und unsinnige Meinungen breiten Ausdruck finden. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Die Massenmedien behandeln ein Thema ausgiebig

In der Tat schließt die Meinungsfreiheit sehr wohl die Freiheit zur sozialmedialen Stammtischmeinung ein. Aber dies gilt nur solange diese die weit gesteckten Grenzen des Strafgesetzes nicht sprengt. Das bedeutet für Roger de Weck freilich nicht, auf jede Meinung sei einzugehen, von vornherein verdiene jede einen Meinungsaustausch. Gute Politiker gehen zwar aus Überzeugung und Eigeninteresse unermüdlich auf die Menschen zu, hören ihre Sorgen, registrieren ihre Erwartungen.

Sie sind Virtuosen des Repetitiven, tausendmal führen sie die gleichartige Diskussion. Wahlkämpfer tun dies von morgen früh bis abends spät. Aber allen Menschen, einschließlich der Journalisten, steht es frei, in Debatten nur einzusteigen, wenn wirklich neue Elemente zu debattieren sind. Massenmedien behandeln ein Thema ausgiebig, bis irgendwann jede Meinungsnuance zum Ausdruck gekommen ist. Oft kristallisiert sich ein Fazit heraus, oder anders gesagt: Die Menschen haben sich grosso modo ihre Meinung gebildet.

Nicht alle Fragen sind moralisch verhandelbar

Roger de Weck beklagt: „In den sozialen Medien jedoch findet keine Debatte ein Ende.“ Der digitale Stammtisch dreht sich im Kreis. Und auch offline bevorzugen Reaktionäre Diskussionen, die mangels neuer Fakten und konkreter, also falsifizierbarer Einwände stereotyp verlaufen. Die Meinungsfreiheit umfasst indessen das Recht eines jeden Individuums, eine Debatte auch einmal abzuhaken. Einige deutsche Intellektuelle sehen sich als Opfer, weil sie sich außerhalb gängiger „Meinungskorridore“ bewegen und dafür büßen müssten.

Nicht alle Fragen sind moralisch verhandelbar – und die Unsicherheit bei der Formulierung einer solchen Grenze ist ein großes Problem. Aber diese Schwierigkeit hängt auch damit zusammen, dass mehr Fragen moralisch verhandelbar sind, als einem lieb sein kann. Roger de Weck nennt ein Beispiel: „Das Anzünden von Flüchtlingsheimen ist nicht moralisch verhandelbar, aber die Grenzöffnung schon.“ Wer Letztere moralisch festzurrt, vertreibt die Gegenseite aus dem etablierten politischen Diskurs. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies