Geschichtlich steht die Sensibilisierung für Fortschritt. Viele Menschen schützen sich wechselseitig in ihrer Verletzlichkeit und werden empfänglicher für eigene und fremde Gefühle. Sie lernen sich in andere Schicksale hineinzuversetzen. Svenja Flaßpöhler weist in ihrem neuen Buch „Sensibel“ jedoch darauf hin, dass diese Entwicklung auch eine Kehrseite hat: „Anstatt uns zu verbinden, zersplittert die Sensibilität die Gesellschaft.“ Die Autorin erzählt die Geschichte des sensiblen Selbst aus einer philosophischen Perspektive. Dabei beleuchtet sie die zentralen Streitfragen der Zeit und arbeitet den Grund für die prekäre Schieflage heraus. Weil die Widerstandskraft bis heute mit kalter Verpanzerung assoziiert wird, gilt sie als Feindin der Sensibilität. Svenja Flaßpöhler durchleuchtet die Sensibilität dialektisch und kommt zu dem Schluss: „Die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können wir nur gemeinsam.“ Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.
Die demokratische Debattenkultur erodiert
Viele Menschen sind mehr denn je damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Doch dieser Diskurs fährt sich zunehmend fest. Liberale und Egalitäre, Rechte und Linke, Alte und Junge, Betroffene und Nicht-Betroffene stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der Effekt dieser Frontalstellung ist eine zunehmende Erosion der demokratischen Debattenkultur. Dabei entsteht ein kaum zu kittender Riss, der sich mitten durch die Gesellschaft zieht.
„Sensibel“, das meint: empfindlich, fühlbar, empfänglich. Positiv wird der Begriff meist im Sinne eines ausgeprägten Einfühlungsvermögens verwendet. Negativ bezeichnet er die Überempfindlichkeit eines Subjekts, das dem Leben nicht gewachsen ist. Dass aktive Sensibilität und passive Reizbarkeit oft miteinander einhergehen, zeigt sich mit Blick auf die Gegenwart deutlich. Was für verwerflich und falsch gehalten wird, ist meist das, was auch die Gemüter reizt. Dieses Verhalten zeigt sich in allen politischen Lagern.
Autonomie ist ohne Widerstandskraft nicht möglich
Menschen sind unterschiedlich in diese Welt gestellt. In manchen Fällen differieren die Perspektiven so sehr, dass wechselseitiges Verstehen unmöglich scheint. Womit man es hier zu tun hat, ist ein erkenntnistheoretisches, ja ontologisches Problem. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Denn sosehr ich mich bemühe, eine andere Perspektive einzunehmen, kann ich eben doch nie der andere sein. Die Subjektivität des Erlebens eines anderen bleibt in letzter Konsequenz unzugänglich.“
Eine funktionsfähige Gesellschaft kann sich jedoch nicht in Aufgabe erschöpfen, Verletzungen zu vermeiden. Genauso fundamental muss die gezielte Stärkung von Widerstandskraft sein, die wesentlich ist für die Ausübung von Autonomie. Diese Kraft nicht ihrerseits zu verabsolutieren, sondern sie vielmehr aus dem Prozess der Sensibilisierung selbst herauszuarbeiten ist das Kernanliegen dieses Buches. Die Resilienz wohnt in der Verletzlichkeit jedes Menschen und ist ein Schatz, der gehoben werden will.
Sensibel
Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
Svenja Flaßpöhler
Verlag: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 231 Seiten, Auflage 2: 2021
ISBN: 978-3-608-98335-7, 20,00 Euro
Von Hans Klumbies