Die Romantik ist der Antipode der Aufklärung

Das Leben kann ganz anders sein. Denn dass hinter der trivialen Alltagsexistenz eine Welt voller wertvoller, authentischer Möglichkeiten liegt, ist das schlagende Herz jeder romantischen Revolte. Philipp Blom erklärt: „Historisch ist die Romantik immer der Antipode der Aufklärung gewesen, ihre Negierung.“ Tatsächlich aber haben sich viele der interessantesten Denker und Denkerinnen von Michel de Montaigne bis Hannah Ahrendt zwischen diesen beiden Polen bewegt und aus beiden Energie gewonnen. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty beschreibt die romantische Haltung gegenüber der Vernunft: „Im Herzen der Romantik (…) ist die Behauptung, dass die Vernunft nur Pfaden folgen kann, die die Vorstellungskraft zuerst erschlossen hat. Ohne Worte, keine Gedanken. Keine Vorstellungskraft, keine neuen Worte. Keine solchen Worte, kein moralischer und intellektueller Fortschritt.“ Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

Alles Denken braucht seine Objekte

Die Romantiker sahen in Imagination und Geschichtenerzählen die transformative Kraft einer Intuition. Diese entwirft neue Gestalten, neue Begriffe, Erfahrungen und schafft Möglichkeiten. Allerdings betonen sie gleichzeitig eine zweite, zutiefst konservative Perspektive auf Geschichten als Ausdruck der ewigen Volksseele. Philipp Blom ergänzt: „Ihre Sensibilität war zerrissen zwischen der Sehnsucht nach Ewigkeit und dem Verlangen nach Revolution.“

Diese Sehnsucht gossen sie in Bilder, die viel eindrücklicher waren als der Vernunftmensch der Aufklärung. Alles Denken braucht seine Objekte. Sie sind wichtig, um Ideen zu kristallisieren und in Handlungen zu übersetzen. Das Andere hinter dem Horizont der rationalen Erkenntnis mag nicht existieren, aber es kann Menschen dazu veranlassen zu handeln, als ob sie existieren würde. Es ist eine Art kollektiver Hypnose, die eine solche Idee am Leben hält, indem es sie immer wieder in der Praxis und den Emotionen anderer verankert, die diese Geschichte erzählt bekommen.

Geteilte Fiktionen machen Gesellschaften erst möglich

Solche Bilder haben es in veränderter Form auch in das Denken der Gegenwart geschafft. Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Solidarität sind keine Beschreibungen natürlicher Sachverhalte. Sondern sie sind ideelle Totems, notwendige Fiktionen, die Gesellschaften zivilisierter machen. Ohne solche geteilten Fiktionen kann es wohl keine wirkliche Gesellschaft geben. Es gibt sonst höchstens einen Waffenstillstand zwischen unterschiedlichen Gruppen, die nebeneinander denselben Ort besetzt halten.

Identitäten sind Erzählungen und werden immer wieder umerzählt. Innerhalb von wenigen Generationen können sich dabei soziale Zwänge und moralische Reflexe völlig verkehren. Die moralischen Instinkte der westlichen Welt haben sich radikal verändert. Sie entsprechen den Erwartungen und Freiheiten eines Lebens in stabilen, wohlhabenden, toleranten Gesellschaften. Dort herrscht kein Hunger, dort funktionieren die Gerichte und es gibt dort eine verlässliche Geburtenkontrolle. Es handelt sich dabei um Gesellschaften, die von Märkten und Hyperkonsum getrieben werden und in denen die Ethik der Selbstoptimierung und der ultimativen Wunscherfüllung herrscht. Quelle: „Das große Welttheater“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies

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