Die Aufklärung muss sich gegen Cancel Culture verteidigen

Die Stärke des aufklärerischen Projekts ist zugleich ihre Schwäche. Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als Feinde. Julian Nida-Rümelin ergänzt: „Ihre Stärke beruht auf ihrer Universalität und Inklusivität, ihre Schwäche ebenso. Wenn sie sich mit den Mitteln ihrer Feinde, zu denen Cancel Culture ganz wesentlich gehört, verteidigen würde, gäbe sie sich selbst auf. Sie muss sich verteidigen, ohne ihre eigenen Grundlagen zu gefährden.“ Unter Cancel Culture versteht Julian Nida-Rümelin eine kulturelle Praxis, die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt, indem sie erstens die Äußerung dieser Meinungen unterbindet, behindert oder zumindest erschwert. Zweitens, indem sie Personen, die diese Meinung haben, zum Schweigen bringt, aus dem Diskurs ausgrenzt oder zumindest marginalisiert. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.

Platon wollte Tragödienschreiber aus der Stadt vertreiben

Drittens, indem Cancel Culture Personen, die diese Meinung haben, tötet, verfolgt oder ihnen Nachteile auferlegt, welche die Freiheit ihrer persönlichen Lebensgestaltung beeinträchtigen. Julian Nida-Rümelin erklärt: „Es handelt sich um drei Eskalationsstufen der Cancel Culture, nach denen sich konkrete und aktuelle Fälle gliedern lassen.“ Platon eignet sich in seiner Ambivalenz gut für einen Einstieg in diese Thematik. Der große Philosoph plädiert in der „Politeia“ dafür, die Künstler, insbesondere die Tragödienschreiber, aus der Stadt zu vertreiben.

Dabei unterschlägt man oft, dass er an späterer Stelle in dieser Schrift erörtern lässt, unter welchen Bedingungen man sie wieder in die Stadt zurückkehren lassen könnte. Julian Nida-Rümelin weiß: „Der Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker Karl Popper hat daraus das vernichtende Urteil abgeleitet, Platon sei ein radikaler Vertreter der geschlossenen Gesellschaft, dem Urbild der totalitären Diktatur.“ Der platonische Sokrates führt für den Vorschlag, die Künstler aus der Stadt zu vertreiben, erkenntnistheoretische, politische und psychologische Argumente an.

Platon entwickelt eine strukturelle Theorie des Ganzen

Das erkenntnistheoretische besagt, dass die Werke der Kunst den Zugang zur Realität verstellen, dass sie Abbildungen von Abbildungen seien. Für Platon gründet die Realität in den tiefer liegenden Strukturen, was man irreführend mit „Idee“ übersetzt. Julian Nida-Rümelin fügt hinzu: „Die Welt der Erscheinungen hingegen besteht ihm zufolge lediglich aus Schatten dieser Urbilder.“ Von diesen schafft die Kunst wiederum mehr oder weniger gelungene Nachbildungen, also statt zur Realität vorzudringen, entfernt sie sich weiter von ihr.

Das politische Argument besagt, dass die Werke der Kunst die Harmonie in der Stadt gefährden, dass sie aufrührerisch und spaltend wirken. Und die psychologisch besagt, dass sie die innere Seelenruhe, die sich für den gerechten Menschen einstellt, gefährdet. Julian Nida-Rümelin stellt fest: „Die Strukturgleichheit von „psyché“ und „pólis“, der Einzelseele und der politischen Gemeinschaft, beruht bei Platon auf einer strukturellen Theorie des Ganzen.“ Dessen Teile stehen zueinander in einem ausgewogenen, sich wechselseitig stabilisierenden Verhältnis. Quelle: „>>Cancel Culture<< - Ende der Aufklärung?“ von Julian Nida-Rümelin Von Hans Klumbies