Das Zauberwort der Aufklärung war Vernunft

Der Mensch des 21. Jahrhunderts glaubt an die Macht der Vernunft, Wissenschaft und Objektivität. Er will das Chaos ordnen und Licht ins Dunkel bringen. Lang ist der Arm Immanuel Kants (1724 – 1804) und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Rebekka Reinhard konkretisiert: „Immanuel Kant stiftete einst zum selbstständigen Vernunftgebrauch an, zum Hinterfragen überkommener Theorien, Dogmen und Autoritäten.“ Die Freiheit, von der Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen, auf die der Philosoph so großen Wert legte, liegt auch heute voll im Trend. Als Immanuel Kant zum Selbstdenken ermutigte, dachte er natürlich nicht an Stammtische oder Facebook-Gruppen, wo jedes „Wir“ andere Probleme und Lösungen durchnudelt. Er hatte vielmehr eine „Weltbürgerschaft“ freier, gleicher, brüderlich gesinnter Geistesmenschen mit Spaß am offenen Meinungsaustausch im Sinn. Die Philosophin Rebekka Reinhard ist seit 2019 stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

Algorithmen sind die Feinde der Vieldeutigkeit

Vernunft war das Zauberwort der Aufklärung. Es wurde in „Moralischen Wochenschriften“ und „Intelligenzblättern“ an ein schnell wachsendes Publikum von Lese- und Debattierwilligen verbreitet. Rebekka Reinhard stellt fest: „Der moderne Mensch glaubt an aufgeklärte Vernunft, nicht aber an umständliches Selbstdenken.“ Das Netz ist für ihn ein Zuhause. Dieses wird erst dadurch gemütlich, dass er die darin befindliche Welt der Sortier-, Optimierungs- und Kontrollkompetenz von Algorithmen anvertraut.

Algorithmen sind die natürlichen Feinde der Vieldeutigkeit. Denn sie sind definiert als eindeutige Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems. Sie bestehen aus wohldefinierten Einzelschritten. Algorithmen sind praktisch, denn sie können schneller rechnen als ein Mensch. Sie zweifeln nicht, sondern geben, ohne zu mucken, sofort und ständig Feedback. Sie sagen den Menschen, welche Probleme sie haben und wie sie sie lösen können. Algorithmen sind ein menschengemachter Hauptbestandteil der Automatisierung und Computerisierung des menschlichen Lebens.

In die Cloud kann man alles schnell mal hochladen

Algorithmen versprechen eine phänomenale Erleuchtung, deren Funktionsweise für die allermeisten Menschen jedoch dunkel bleibt. Sie erklären den Menschen auf Basis der Spuren, die sie online hinterlassen haben, was sie als Nächstes wollen, wählen, wünschen, fürchten werden. Sie drehen die Menschen wie mit Zauberhand in die gewünschte Richtung. Gewünscht von wem? Der moderne Mensch liebt Transparenz, will aber nicht groß nachdenken und rauskriegen, was sich hinter dem glatten Design seiner Geräte verbirgt.

Es wäre zu zeitintensiv und viel zu anstrengend. Ein Algorithmus ist das Ding zum Shoppen, Lernen und Musikhören. Die Cloud das Ding, in das man alles schnell mal hochladen kann. Man will keine Fragen, sondern glasklare Antworten. Rebekka Reinhard fügt hinzu: „Alles muss schnell gehen. Man will wissen, welche Probleme man hat und wie man sie lösen kann.“ Unter den Bedingungen einer chaotischen Welt ist nicht die Komplexität des Selbstdenkens à la Immanuel Kant gefragt, sondern die Eindeutigkeit von Programmiercodes und Maschinensprachen. Quelle: „Wach denken“ von Rebekka Reinhard