Die Aufklärung prägte Europa nachhaltig

Europa mag oft unbelehrbar erscheinen. Es ist aber auch unzerstörbar. Eines der Überlebensprojekte bestand in einem neuen Denkstil. Ein intellektueller Kraftakt. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Doch es gab auch ganz andere Wege der Erneuerung – solche ästhetischer Art. Barocke Kirchen und Paläste schossen aus dem Boden, „Rom“ zog alle Register, um verlorenes Terrain gutzumachen.“ In allen katholisch geprägten Ländern entstanden Inszenierungen der Macht und Pracht. Diese hatten nur ein Ziel: die Menschen in ihren Bann zu schlagen, sie zu überwältigen. Die Jesuiten verfolgten diesen Plan bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Das geschah zu einer Zeit, in der Papsttum immer stärker in Bedrängnis geraten war und die Reformation dessen Autorität bedrohte. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Das „Theatrum sacrum“ brach sich Bahn

Die Kirche Il Gesu (1568 – 84) in Rom wurde zum Prototyp der neuen Strategie. Jürgen Wertheimer erklärt: „Sie sollte bald Nachfolgebauten in ganz Europa finden. Der Himmel schien sich zu öffnen und den Gläubigen in einem gewaltigen Sog nach oben zu ziehen. Die Grenzen zwischen Irdischem und Himmlischem schienen aufgehoben.“ Die große Inszenierung aus Stein und Farbe, das „Theatrum sacrum“ brach sich Bahn. Es wirkt beinahe so, als würde der Dreißigjährige Krieg zweier fundamental unterschiedlicher Weltanschauungen nun mit künstlerischen Mitteln weitergeführt.

Hier formstrenger, asketischer Reduktionismus, ganz auf das Wort konzentriert, dort berauschende, nahezu übersinnliche Betörung. Die Doppelhelix europäischen Glaubens ist seit dieser Zeit mit Händen zu greifen und Basis einer Religiosität, die ständig zwischen nüchterner Rationalität und dem Bedürfnis nach Emotionalisierung oszilliert. Diese bipolare Organisation betrifft nicht nur die Kirche. Jürgen Wertheimer weiß: „Auch das Theater findet sich im 17. und 18. Jahrhundert hin- und hergerissen zwischen Regelzwang und Normierung auf der einen und Phantasieausbrüchen auf der anderen Seite.“

Zwei künstlerische Welten standen sich im Theater gegenüber

Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Stenger Klassizismus und opulente, phantastische Oper standen sich als zwei Welten gleichzeitig gegenüber.“ Während Gotthold Ephraim Lessing und Denis Diderot an einer neuen, die Gegensätze synthetisierenden Form bastelten. Der Kampf für oder gegen das klassizistische Theater, das vorwiegend aus Frankreich kam und eine Art Modell, Muster und Muss für ganz Europa darstellte, wurde mit großer Härte ausgetragen. Denn letztlich ging es um weitaus mehr als um künstlerische Sichtweisen.

Es ging um nichts Geringeres als um zwei Weltanschauungen, zwei Weisen, mit der Welt umzugehen. Auf der einen Seite die harte, strenge Form und Norm, der man sich zu unterwerfen hatte. Ästhetisch wie moralisch. Mit logischer Wahrscheinlichkeit und stoischer Haltung. Eingeübt seit den Zeiten Pierre Corneilles und Jean Racine bis hin zu Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766), und allen, die Bühne und Leben frei haben wollten von Phantastischem, Übernatürlichen, Ambivalenten. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies