Die Frühe Neuzeit ist das Zeitalter der Überreichweiten

In seinem neuen Buch „Überreichweiten“ setzt sich Martin Mulsow mit neuen Perspektiven einer globalen Ideengeschichte auseinander. Im Fokus bei diesem Unternehmen stehen dabei transnationale und vor allem transkulturelle Verbindungen von Wissensbeständen. Dabei ist für Martin Mulsow Unverbundenheit ein genau so wichtiger Umstand wie Verbundenheit. Der Autor weiß: „Jede transkulturelle Forschung ist notwendigerweise standortgebunden. Das hängt mit der jeweils eigenen intellektuellen Sozialisierung zusammen.“ Und eine globale Ideengeschichte ist nicht anders als in Fallstudien zu betreiben. In seinem Buch interpretiert Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Überreichweiten. Als eine Zeit, in der Quellen aus nah und fern sozusagen dasselbe funkten, ohne dass man mit dieser Verdopplung zurechtkam und sie manchmal nicht einmal bemerkte. Martin Mulsow ist Professor für Wissenschaftskulturen an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha.

Auch Fehlwahrnehmungen haben die Vormoderne geprägt

Martin Mulsow überführt die neuzeitliche Ideengeschichte in eine Form von „Globalisierung“, die ihr angemessen ist. Dabei handelt es sich um eine globalisierte Ideengeschichte in Form einer weitgespannten Verflechtungsgeschichte. Diese wird heute von vielen Forschern als dringend notwendige Ergänzung der herkömmlichen, meist europazentrierten Sichtweise auf die Dynamik von Geist und Wissen angesehen. Als Zeitrahmen für seine Untersuchungen wählt der Autor die Vormoderne, spezifisch die Frühe Neuzeit zwischen Renaissance und Aufklärung.

Der Begriff der „Überreichweiten“ steht für ein ganzes Bündel von Fehlausgriffen, die zu weit, zu nah, zu unpräzise oder völlig verfehlt sind. Oft unterschätzt man, wie sehr Fehlwahrnehmungen die Vormoderne geprägt haben. Denn die Informationsketten konnten löchrig oder fehlerhaft sein. Martin Mulsow definiert intellektuelle Akte der Globalisierung wie folgt: „Es sind Bezugsrahmen auf räumlich entferntes im Kontext von geistiger Aneignung fremder Ideen, zumeist im Zuge realer europäischer oder nichteuropäischer Expansion, ob es sich nun um Eroberung oder nur um Entdeckung auf den Wegen von Händlern oder Missionaren handelt.“

Martin Mulsow forscht anhand von Fallstudien

Eine globale Ideengeschichte ist keine Neuauflage alter Universalgeschichte. Das vorliegende Buch wählt daher bewusst den Weg der Fallstudien, um mikrologisch und akteurszentrierte Fälle von unterschiedlichen Risikoausgriffen, Überreichweiten und Verzahnungen jahrhundertelanger Transmissionen über verschiedene Kontinente aufzuzeigen. Nur dann, so Martin Mulsows Überzeugung, lassen sich die Errungenschaften der Kulturgeschichte – und eben auch: die Ideengeschichte als Kulturgeschichte intellektueller Praktiken – bewahren.

Um seine Fallstudien nicht völlig isoliert voneinander zu halten, ist Martin Mulsow nach dem Muster des Episodenfilms vorgegangen. Der Autor erläutert: „Ich verankere die Einzelgeschichten in den Jahrzehnten um 1700 und lasse den Cast dieses Buches, die personelle Besetzung der Narrative, von Zeit zu Zeit auch in Nachbarepisoden auftreten.“ So bildet sich ein gewisses Netz von Personen, deren Konnektivität dafür einsteht, dass trotz so vieler fremder Ideenwelten dennoch Überlappungen sichtbar werden.

Überreichweiten
Perspektiven einer globalen Ideengeschichte
Martin Mulsow
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 717 Seiten, Auflage: 2022
ISBN: 978-3-518-58793-5, 42,00 Euro

Von Hans Klumbies