In Europa gab es lange keine Demokratie

Es ist für Silvio Vietta eigentlich unfassbar, wie lange nach der römischen Republik und deren Zusammenbruch dann die Demokratie in Europa ruht. Es war eine Art Grabesruhe für Jahrhunderte. Im Mittelalter gab es zaghafte Neuansätze in den sich bildenden Stadtkulturen. Die Schweiz macht sich nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Habsburger Vorherrschaft in der Schlacht von Sempach 1386 frei von deren Vorherrschaft. Das kleine Land in Mitteleuropa beschritt damit einen Weg hin zu einer halb-direkten Demokratie. Silvio Vietta fügt hinzu: „Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie gab es vor allem in England, wo ab dem 13. Jahrhundert der Monarchie ein Parlament gegenübertrat.“ Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

Thomas Hobbes will die Menschen vor sich selbst schützen

Mit der „Bill of Rights“ von 1689 wurden in England die Grundrechte der Bürger festgeschrieben. Die moderne Demokratie bildet sich dann in England, Frankreich und den USA heraus. Sie unterscheidet sich wesentlich von der antiken Polis-Demokratie durch die Großräumigkeit dieser Flächenstaaten und damit Verwaltungseinheiten. Auchs steht die Gründung der Demokratie in der Neuzeit im Kontext eines breiten Neuansatzes der europäischen Aufklärung. Diese gründet sich zum einen in der Bewegung des Protestantismus.

Dieser hatte sich die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Menschen auf seine Fahnen geschrieben. Zum anderen aber in der Weiterentwicklung der Philosophie der Rationalität und ihren Forderungen nach einer vernünftigen Selbststeuerung des Menschen. Damit wollte man auch die Politik neubegründen. Silvio Vietta erläutert: „Die neuzeitliche Aufklärung erfand dafür den Gedanken der vertraglichen Grundlegung der Politik, dies aber auf der Basis ganz unterschiedlicher anthropologischer Konzepte.“ Der englische Aufklärer Thomas Hobbes lässt den Staat durch den „Gesellschaftsvertrag“ seiner Bürger entstehen, um die Menschen vor sich selbst zu schützen.

John Locke vertritt eine Theorie der Gewaltenteilung

Der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau entwickelt dagegen das Konzept eines „contrat social“ auf der Grundlage einer harmonischen Auffassung vom Menschen. In beiden Projekten herrscht die Idee vor, dass die Bürger zwar Rechte abtreten müssen an den Staat, dafür dieser auch ihre Rechte vertreten und verteidigen muss. Dazwischen liegt John Locke mit seinen „Two Treatises of Government“ von 1690. In dessen zweiten Essay vertritt er bereits eine Theorie der Gewaltenteilung und auch die Idee, dass der Mensch bereits im Naturzustand „frei“ und auch „vernünftig“ sei.

Es ist für Silvio Vietta schon bemerkenswert, wie unterschiedlich Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau den Menschen einschätzen. Denn die Unterschiede der Anthropologie beeinflussen auch stark die Konzepte des Staates, die zunächst noch keine Demokratietheorien sind. Wohl aber zeigen sie ein neuzeitliches Verhältnis des Menschen zum Staate an. Die Neuzeit erkennt, dass der Staat selbst ein rationales Konstrukt des Menschen ist. Deshalb entwickelt man dementsprechende Theorien der rational vertraglichen Herstellung eines solchen Gebildes. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta

Von Hans Klumbies