Der Gottesglauben dämmert weg

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nabelt sich die philosophische Psychologie von der spekulativen Philosophie ab. Sie entwickelt sich zu einer experimentellen Wissenschaft mit Forschern wie Wilhelm Hundt, William James und Gerard Heymans in Groningen. Ger Groot betont: „Das hat einen prägenden Einfluss auf die Art und Weise, wie die Menschen sich selbst sehen.“ Im Laufe des 19. Jahrhunderts sondert sich das Persönliche und da Religiöse zunehmend voneinander ab. Und die Bedeutung des „einzigartigen Ichs“ wird außerhalb der religiösen Sphäre noch wichtiger und nachhaltiger als in ihr. Das Wegdämmern des Gottesglaubens zehrt nicht am Ich, sondern lässt es erstarken. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

Für Immanuel Kant bleibt Gott eine Notwendigkeit

Der Bedeutungsverlust der Religion führt jedoch nicht dazu, dass die Irrationalität schwindet, sondern dass sie zunehmend Terrain beansprucht. Die wichtigste Bühne dieser paradoxen Entwicklung ist das protestantische deutsche Sprachgebiet. In diesem hat der Gottesglaube nur wenig unter der Aufklärung zu leiden. In Frankreich dagegen hatte sich der Atheismus schon früher in das provozierende Denken des 18. Jahrhunderts eingeschlichen. Relativ unbekümmert nimmt man da von Gott Abschied.

Für Immanuel Kant bleibt Gott ein notwendiger Schlussstein seiner Philosophie. Gott war für ihn letztlich die Garantie dafür, dass irgendwann das Böse bestraft und das Gute belohnt wird. Die Pflicht an sich sollte an sich Grund genug sein, ein tugendhaftes Leben zu führen. Allerdings bildete die Verheißung des Letzten Gerichts für das schwankende Gemüt des Menschen eine unerlässliche Stimulanz, um auf dem rechten Wet zu bleiben. In dieser Sphäre war Gott persönlicher und daher viel massiver präsent als in der lateinischen Welt.

Der Protestantismus hat Angst vor dem Schweigen Gottes

Die einzige inhaltliche ethische Regel, die Immanuel Kant aufstellte und verteidigte, war das Verbot zu lügen. Daher musste der Verlust Gottes in Deutschland zu einer viel größeren Krise führen als im lateinischen Kulturbereich. Denn in diesem machte man um Wahrheit und Wahrhaftigkeit weniger Aufhebens. Gleichzeitig hatte die Gegenwart Gottes im Protestantismus einen viel heikleren Stand, hing sie doch völlig vom Gemüt des Einzelnen ab. Gottes Anwesenheit und seine Ansprüche waren bis auf das Äußerste geschärft worden.

Doch war deren Verankerung zugleich auf den dünnen Kontaktpunkt reduziert, an dem Gott und Individuum einander in die Augen sahen. Daher war nicht allzu viel erforderlich, um diese Verbindung zu brechen. Die Überspanntheit, unter der die irdisch-himmlische Beziehung im Protestantismus häufig leidet, findet hierin ihre Ursache. Bei Søren Kierkegaard entwickelte sie sich fast zu einer hysterischen Obsession. Die Angst vor dem Schweigen Gottes begleitet die Reformation von Beginn an. Quelle: „Und überall Philosophie“ von Ger Groot

Von Hans Klumbies