Bei moralischen Prinzipien geht es darum, Schaden zu vermeiden. Warum gilt: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht stehlen“? Weil die Folge einen Schaden für jemanden darstellt: den Verlust des Lebens und des Besitzes. Philipp Hübl stellt fest: „Unsere moralischen Urteile drücken also Wertungen aus. Und unsere Emotionen in gewisser Weise auch.“ Eine Spielart der Angst ist die Hemmung, andere zu töten. Auf der Seite der Moral ist das Tötungsverbot für alle Menschen und Kulturen ein universelles Gesetz. Jedem ist klar, dass das Leben einen Wert darstellt und der Tod als Verkürzung des Lebens somit einen Schaden anrichtet. Die Stärke der Angst spielt also für die moralische Einschätzung eine nicht unbedeutende Rolle. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Ängste vor dem Abstieg führen zum Extremismus
Ein unerwartetes Ergebnis der Forschung lautet, dass Angst auch mit politischen Vorlieben korreliert ist. Konservative halten die Welt für bedrohlicher als Progressive. Das ist inzwischen auch neurologisch nachgewiesen. Im Vergleich zu Progressiven haben Konservative im Schnitt eine größere Amygdala, die Schaltstelle der Angst im Gehirn. Die unterschiedlichen Angstneigungen passen auch gut zu dem Bild, das beide Gruppen vom Staat haben.
Konservative sagen beispielsweise, die Regierung soll die Bevölkerung vor Gefahren schützen. Progressive hingegen erwidern, die Regierung soll für die Bürger sorgen. Viele Analysten über die Spaltung der Gesellschaft nennen Angst als Grund für den erstarkten Rechtspopulismus in Europa. So schließen sich zum Beispiel der Politikwissenschaftler Franz Walter und seine Kollegen der Analyse des amerikanischen Soziologen Seymour Lipset an, dass „Abstiegsängste“ zum Extremismus führen. Und der Psychologe Borwin Bandelow meint, Fremdenfeindlichkeit entspringe „irrationalen Ängsten“.
Jede politische Partei spricht unterschiedliche Ängste an
Angst allein macht Menschen allerdings nicht fremdenfeindlich oder antidemokratisch, sondern zunächst einmal empfänglich für Themen wie „Ordnung“, „Schutz“ und „Sicherheit“, zum Beispiel für erhöhte Polizeipräsenz und Videoüberwachung. Angst und andere Emotionen sind keine niederen Instinkte, sondern komplexe Zustände, und es ist überraschenderweise vor allem ein übersteigertes Ekelempfinden, das für rechtsradikales Denken verantwortlich ist. Genau genommen spricht jede politische Partei Ängste an, die sich auf ganz unterschiedliche Bedrohungen beziehen.
Die Linke und die SPD treibt die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Altersarmut um. Die FDP hat Angst, dass Bürgerrechte und die unternehmerische Freiheit eingeschränkt werden. Die Wähler der Grünen haben Angst, dass die Natur Schaden nimmt. Die CDU und ein Teil der CSU setzen bei ihren Wählern auf die Angst vor dem Traditionsverlust und vor der Kriminalität. Die AfD schließlich und der andere Teil der CSU haben im Jahr 2018 die Angst vor Flüchtlingen in das Zentrum ihrer Agenda gerückt. Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl
Von Hans Klumbies