Politische Wahlen müssen ungewiss sein

Eine gute ausbalancierte repräsentative Demokratie benötigt mehrere Dinge. Jan-Werner Müller betont: „Nach einer Niederlage sollte es eine realistische Chance gegen, dass unsere Seite später auch wieder gewinnen kann. Wir müssen sicher sein können, dass dies zumindest eine Möglichkeit ist. Denn anderenfalls stellt sich die Frage, warum wir das Spiel nicht gleich ganz verlassen sollten.“ Wenn man jedoch stets sicher ist, das Spiel zu gewinnen, mag das einem zwar ganz lieb sein, aber Beobachter könnten zu Recht den Verdacht haben, dass es mit der Demokratie eigentlich vorbei ist. Deshalb definiert der Politologe Adam Przeworski Demokratie als eine Form „institutionalisierter Ungewissheit“. Diese sperrige Formulierung enthält eine profunde Erkenntnis: Politische Ergebnisse – insbesondere Wahlen – müssen auf eine spezifische Weise ungewiss sein. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

In einer Demokratie können Parteien Wahlen verlieren

Adam Przeworski fasst seine zentrale Einsicht mit einer scheinbar trivialen, in Wirklichkeit aber brillanten Beobachtung zusammen: Demokratie lässt sich definieren als ein System, in dem Parteien Wahlen verlieren. Ungewiss ist nicht dasselbe wie Chaos oder reine Zufälligkeit, denn sie ist notwendig institutionalisiert. Regeln müssen den Konflikt zugleich ermöglichen und eingrenzen. Aber Jan-Werner Müller betont noch einmal: „Die Rolle von Regeln zu unterstreichen bedeutet nicht, dass sich die Demokratie auf eine Art Staffellauf von verschiedenen Eliten reduzieren ließe.“

Verfahren müssen es den Verlierern ermöglichen mitzureden, gleichzeitig aber auch den Gewinnern, ihre Vorstellungen umzusetzen. Es reicht nicht, wenn sie es Gewinnern und Verlierern ermöglichen, ihre Plätze zu tauschen. Regeln müssen auch die Chance eröffnen, dass mit der Zeit neue Gewinner und Verlierer ins Spiel kommen. Ungewissheit für die Gewinner bedeutet Hoffnung für die Verlierer. Und nicht zuletzt hätten Bürger kaum Grund, sich politisch zu engagieren, wenn es gar keine Ungewissheit gäbe.

Zugeschriebene Identität ist kein Schicksal

Daraus folgt nicht: je unvorhersehbarer oder gar zufälliger, desto besser oder demokratischer. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass auf einer ganz elementaren Ebene Demokratie gar keinen Sinn hätte ohne die Möglichkeit, dass Bürger zumindest manchmal ihre Meinung ändern. Dazu gehört auch ihre Meinung über Demokratie und deren Umsetzung an bestimmten Punkten durch bestimmte Regeln. Natürlich weiß man, dass in der Praxis viele Menschen ihre Meinung nicht allzu oft ändern und bestimmte Gruppen historisch loyal gegenüber einer bestimmten Partei bleiben.

Jan-Werner Müller gibt zu bedenken: „Aber wir können nicht immer im Voraus wissen, wer sich wie entscheidet. Wir dürfen nicht die Vorstellung aufgeben, dass Demokratie auf der Erwartung basiert, manche Menschen entwickelten zumindest gelegentlich andere Ansichten. Und dass zugeschriebene Identität kein Schicksal ist.“ Wer die Ungewissheit aus der Demokratie herausnimmt, fügt nicht nur den Verlierern – oder, anders gesagt, der Minderheit – Schaden zu. Echte Demokratie schützt auch die Mitglieder einer einstigen Mehrheit, die vielleicht ihre Meinung ändern möchte. Quelle: „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit“ von Jan-Werner Müller

Von Hans Klumbies