Eine Gesellschaft, die sich über Arbeit und Leistung definiert erscheint vielen Menschen derzeit ziemlich selbstverständlich. Scheinbar ist sie die einzig sinnvolle Form des Zusammenlebens. Sie ist aber eine englische Erfindung zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Richard David Precht erläutert: „Unter allen Tugenden zählt nun nicht mehr die „phrónesis“ – die Weltklugheit – als die höchste, sondern die Tüchtigkeit, die Tugend der Arbeitsgesellschaft.“ „Die Arbeit“, beklagt Friedrich Nietzsche 1882, „bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hand zur Freude nennt sich bereits >Bedürfnis der Erholung<. Und fängt gleichzeitig an, sich vor sich selbst zu schämen. >Man ist es seiner Gesundheit schuldig< – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird.“ Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Deutschen vererben pro Jahr 400 Milliarden Euro
Die Vorstellung, dass nur Arbeit adelt, ist so wirkmächtig, dass sie noch heute als Leitfiktion die Gesellschaften des Westens bestimmt: Wer mehr leistet, der bekommt auch mehr. Doch der Begriff „Leistung“ ist ein äußerst nebliges Wort. Denn dass ein Mensch, der mit windigen Versicherungsmodellen zuungunsten seiner Kunden Milliardär wird, mehr leistet als eine Altenpflegerin mit niedrigem Lohn, ist eine gewagte These. Und wenn es darauf ankommt, bewundern die meisten Menschen vor allem Erfolg und nicht – eine öffentlich nicht gewürdigte – Leistung.
Für viele Menschen in Deutschland ist immer noch der Leistungs-Mythos für ihr Selbstbewusstsein entscheidend. Und doch, so scheint es, war die Zeit des kollektiven Aufstiegs in der alten Bundesrepublik eher eine Ausnahme als die Regel. Richard David Precht glaubt: „Dass die Karriere nur etwas mit innerer Einstellung und Moral zu tun haben soll, ist ein liebgewonnenes Märchen, das dem eigenen Werdegang besonderen Glanz gibt.“ Und wenn man heute in Deutschland pro Jahr 400 Milliarden Euro schlichtweg vererbt, ist der Begriff „Leistungsgesellschaft“ kaum mehr als eine Beschönigung.
Die eigene Leistung ist immer auch ein Verdienst anderer
Die Leistungsgesellschaft ist eine Fiktion; allerdings für jeden, den sie motiviert, eine nützliche. Sie erzeugt ein gesellschaftliches Klima und eine Haltung – und sei es auch einzig durch die normative Kraft des Fiktiven. Man sollte die Leistungsgesellschaft deshalb auch nicht völlig kleinreden. Aber überhöhen sollte man sie auch nicht. Was ein Mensch leistet, ist nicht nur eine Frage seiner Verdienste, sondern ebenso ein Verdienst anderer. Der Eltern zum Beispiel, die ihrem Kind Talente vererbt haben und es durch ihre Erziehung prägten.
Die Leistungsgesellschaft in Deutschland funktioniert nur, weil sie dies streng genommen nicht ist und viel Platz für Illusionen lässt. Das Illusionäre der Leistungsgesellschaft hat sogar Methode. Richard David Precht erklärt: „Selbst wenn alle sich anstrengten, könnten nicht alle belohnt werden.“ Im Kapitalismus, sagt der Kabarettist Volker Pispers, kann jeder reich werden, nur nicht alle. Irgendjemand müsse auch für die Reichen arbeiten. Von Illusionen durchzogen ist auch die Rhetorik von der „arbeitenden Mitte“, um die jede Volkspartei wirbt. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht
Von Hans Klumbies