Das Schicksal spiegelt die Verdienste wider

Michael J. Sandel betont: „Der Gedanke, dass unser Schicksal unsere Verdienste widerspiegelt, ist in der moralischen Intuition der westlichen Kultur tief verwurzelt.“ Die biblische Theologie lehrt, dass Naturereignisse aus einem Grund heraus geschehen. Günstiges Wetter und eine reiche Ernte sind göttliche Belohnungen für Wohlverhalten. Dürre und Pestilenz sind Strafen für Sünden. Aus der Entfernung des heutigen wissenschaftlichen Zeitalters mag diese Denkungsart naiv oder gar kindlich erscheinen. Doch sie liegt nicht so fern, wie es zunächst erscheint. In Wahrheit ist diese Auffassung der Ursprung des meritokratischen Denkens. Sie spiegelt die Überzeugung wider, dass das moralische Universum auf eine Weise geordnet ist, die Wohlstand mit Verdienst und Leiden mit Übeltaten verknüpft. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

Die Meritokratie betont die Handlungsmacht des Menschen

Das ist nicht weit von der zeitgenössischen Ansicht entfernt, die Reichtum mit Talent und harter Arbeit assoziiert und Armut mit Trägheit. Zwei Merkmale der biblischen Auffassung liefern laut Michael J. Sandel eine Andeutung der der heutigen Meritokratie: „Eines ist die Betonung des menschlichen Handelns, das andere ist die Härte gegenüber denjenigen, die Unglück erleiden.“ Auf den ersten Blick scheint es, als würde die zeitgenössische Meritokratie Handlungsmacht und Willen des Menschen betonen, während die biblische Version alle Macht Gott zuschreibt.

Doch das ist in Wahrheit ein höchst anthropozentrisches Bild, in dem Gott den größten Teil seiner Zeit damit zubringt, auf das Tun der Menschen zu reagieren. Mit Belohnungen für tugendhaftes Verhalten, mit Strafen für Sünden. Damit wird Gott paradoxerweise auf die Menschen verpflichtet und – sofern er gerecht ist – genötigt, den Menschen die Behandlung zukommen zu lassen, die sie verdient haben. Obwohl Gott derjenige ist, der Belohnungen und Strafen zuweist, macht er das gemäß den Verdiensten der Menschen und nicht willkürlich.

Gott muss die Verdienste der Menschen anerkennen

Michael J. Sandel stellt fest: „Selbst in der Anwesenheit Gottes erarbeiten sich die Menschen also ihr Schicksal und haben es deshalb auch verdient.“ Zweitens lässt diese meritokratische Denkungsart die harte Einstellung gegenüber denjenigen aufkommen, die Unglück erleiden. Je stärker das Leid, desto größer der Verdacht, das Opfer habe es selbst auf sich gezogen. In christlichen Debatten über Erlösung tritt die Frage des Verdienstes erneut in Erscheinung. Kann der Gläubige sich Erlösung durch religiösen Gehorsam und gute Werke verdienen?

Oder ist Gott absolut frei darin zu entscheiden, welche Menschen zu retten seien, ungeachtet dessen, wie sie ihr Leben führen? Die erste Option scheint gerechter zu sein, weil sie Tugend belohnt und Sünde bestraft. Theologisch eröffnet sich jedoch ein Problem, weil sie Gottes Allmacht in Frage stellt. Wenn Erlösung etwas ist, was die Menschen sich erarbeiten und damit verdienen können, ist Gott sozusagen gehalten, die Verdienste der Menschen anzuerkennen. Quelle: „Vom Ende des Gemeinwohl“ von Michael J. Sandel

Von Hans Klumbies