Ethische Entscheidungen sind schwer zu treffen

Wenn man schwierige ethische Entscheidungen treffen muss, ist die Sachlage meist unklar. Das betrifft insbesondere Personen in moralisch anspruchsvollen und verantwortungsvollen Berufen, etwa Ärzte, Klinikdirektoren und Politiker. Markus Gabriel erklärt: „Die Corona-Krise hat uns dies in manchen Ländern in voller Härte vor Augen geführt.“ Teilweise musste darüber entschieden werden, wer leben darf und wer eventuell sterben muss. Entscheidungen, die viele Menschen traumatisieren werden. Diese Notsituation offenbart nur, was auch durchweg der Fall ist. Denn die Ressourcen auf der Erde sind knapp und werden durch internationale Politik und die globalen Produktionsketten der Wohlstandsgesellschaft gesteuert. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Menschen sind andauernd in ethische Dilemmata verstrickt

Märkte, die auf Konkurrenzdenken basieren, entscheiden ständig über Leben und Tod. Ebenso wie die teils undurchlässigen, aber kontingent gesetzten Grenzen von Nationalstaaten, die danach streben, sich gegenüber ihren Nachbarn Vorteile zu sichern. Markus Gabriel ergänzt: „Und wir alle treffen durch unser Konsumverhalten sowie unsere ganz alltäglichen Einstellungen zu anderen Menschen moralisch aufgeladene Entscheidungen.“ An diese haben sich die meisten Menschen allerdings gewöhnt, so dass sie ihnen gar nicht so schwerwiegend vorkommen.

Die komplexe globale Lage bringt es anscheinend mit sich, dass Menschen andauernd in ethische Dilemmata verstrickt sind. An allen Ecken und Enden stellen sich jedem Menschen dringende moralische Fragen. Wie soll man fair und nachhaltig produzieren und konsumieren? Welche Produkte kann man überhaupt noch kaufen, ohne damit jemanden zu schaden? Wie organisiert man seine Mobilität? Wohin fährt oder fliegt man in den Urlaub? Markus Gabriel stellt fest: „Unser Alltagsleben ist grundlegend dadurch strukturiert, dass wir in die Konsum- und Produktionsketten unseres eigenen Wohlstands eingebunden sind.“

Die Arbeit dient dem Konsum

Das empfinden die meisten Menschen nur deswegen nicht als Zumutung und Last, weil dies mit dem Versprechen auf Urlaub, Freizeit, Luxus, Gesundheit und Freiheit verbunden ist. Man wird teilweise großzügig dafür kompensiert, dass man arbeitet, um konsumieren zu können. Dabei bemerkt man nicht, dass die Konsumgewohnheiten im Internet inzwischen selbst zur Arbeit geworden sind. Wer in den sozialen Medien unterwegs ist, produziert Daten, von denen große Softwareunternehmen profitieren.

Markus Gabriel weiß: „Jeder Klick, jeder Like landet irgendwann in Form von Dollars auf den Konten von Leuten wie Jeff Bezos und Mark Zuckerberg.“ Diese ökonomische Ordnung ist nicht selbstverständlich. Sie entwickelte sich in den letzten zweihundert Jahren, in der Moderne. Dies geschah durch industrielle Schübe und riesige historische Umbrüche, zuletzt durch die digitale Revolution. Die Corona-Krise macht diese Ordnung in ihrem gegenwärtigen Zustand besonders deutlich und für alle erkennbar. Quelle: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies