Alain Ehrenberg plädiert für eine Politik der Autonomie

Der Pariser Sozialforscher Alain Ehrenberg hat im Suhrkamp Verlag sein zweites Buch veröffentlicht: „Das Unbehagen in der Gesellschaft“. Vor zwölf Jahren stellte der Autor in seinem Erstlingswerk „La fatigue d’être soi“ fest, dass die meisten westlichen Menschen sich in einem Zustand der völligen Erschöpfung befinden, nachdem sie aus den vormodernen Zwängen und Routinen befreit worden waren. Die Massen waren für Alain Ehrenberg einfach fix und fertig. Er schrieb: „Sich befreien, macht nervös, befreit sein, depressiv. Die Angst, man selbst zu sein, versteckt sich hinter der Erschöpfung, man selbst zu sein.“ Er vertrat die Meinung, dass der mündige Souverän abdankt, wenn ein Individuum bunte Pillen schlucken muss, um gut gelaunt seiner Büroarbeit nachgehen zu können. Aber ohne einen souveränen Bürger ist die Gesellschaft in Gefahr, das Gemeinwesen droht auseinanderzubrechen.

Demokratien sollen sich auf die Autonomie ihrer Bürger verlassen

In seinem neuen Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ stellt Alain Ehrenberg die Frage, wie man in den modernen Gesellschaften des Westens darauf kommt, vom Selbst des freien Menschen zu sprechen und ob die Sorge um die Demokratie tatsächlich ein Alarmzeichen ist. Er will klären, ob Demokratien durch ein Fortschreiten der Individualisierung und ihrer anstrengenden Wahlfreiheiten überfordert oder ob sie sich doch auf die Autonomie ihrer Staatsbürger verlassen können.

Alain Ehrenberg fordert, dass die Demokratien auf die Autonomie des Bürgers bauen sollen. Er schreibt: „Ich plädiere für eine Politik der Autonomie, das heißt für die Politik, die auf die Fähigkeit der Einzelnen setzt, zu handeln, und auf ihre Kraft, individuelle Entscheidungen zu treffen.“ Alain Ehrenberg erinnert daran, dass die Demokratie seit ihrer Entstehung von der Sorge um die Vereinzelung des Individuums begleitet gewesen ist. Den Grund dafür sieht er in der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit.

Orientierung an Amartya Sen und Axel Honneth

Alain Ehrenberg empfiehlt die Schriften zweier Denker als Orientierung für eine Politik der Autonomie. Erstens die „Philosophie der Fähigkeiten“ des Ökonomen Amartya Sen und zweitens „Die Theorie der Anerkennung“ des Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth. Seiner Meinung nach bieten die beiden Autoren Lösungsansätze an, um die müden Individuen in taumelnden Demokratien wieder aufzurichten. Die Philosophie Amartya Sens überzeugt Alain Ehrenburg deshalb, weil sie die Fähigkeit und den Wunsch, sozial zu handeln, gegen ein ökonomistisches Menschenbild absetzt.

Auf diese Weise entsteht bei Amartya Sen eine neue Sprache des politischen Handelns. Axel Honneths Denken führt gemäß Alain Ehrenberg weiter, weil es zwar vom Einzelnen ausgeht, aber auf der universalen Vernunft und der Verallgemeinbarkeit ihrer Prinzipien beruht. Die Gesellschaften des Westens dürfen allerdings nicht das eigene Unbehagen mit der Welt im Allgemeinen verwechseln. Er schreibt: „Der entscheidende Punkt ist, dass der Mensch einfach in Gesellschaft lebt, sondern in einer besonderen Gesellschaft.“

Von Hans Klumbies