Die Digitalisierung zeichnet sich durch eine gigantische Ansammlung von Dokumenten aus, in denen soziale Transaktionen aufgezeichnet sind. Markus Gabriel warnt: „Diese Struktur ist dabei aufgrund ihrer technischen Verfassung vollständig überwachbar.“ Die digitale Wirklichkeit unterscheidet sich von der alten analogen Wirklichkeit insofern, als dass sie durch und durch mathematisch ist. Sie besteht nur aus Informationen, die zwar an analogen Orten gespeichert werden, aber selber nicht physisch sind. Es handelt sich um die Verbreitung von geistigen Gegenständen, also von Gedanken, Bildern und Weiterem mehr in einem Medium, das keine Grenzen und Schranken kennt. Alles, was online verfügbar ist, kann gehackt werden. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Das Internet denkt nicht
Dagegen gibt es ständig Softwareupdates, die auf Fortschritte in der Hacker-Community reagieren. Dennoch existiert keine Firewall, die niemand durchbrechen kann. Das Internet beweist, dass der Funktionalismus einen wahren Kern hat. Denn wahrheitsfähige Gedanken sind in der Tat sowohl multipel realisierbar als auch substratunabhängig. Markus Gabriel erläutert: „Ich kann die Wahrheit aufschreiben, ohne sie dadurch zu verändern. Sie kann in einer Fotografie, einem Video, einer unbewussten Erinnerung, die mich umtreibt, oder als Graffiti weiterleben.“
Das Internet enthält Gedanken, was jedoch noch lange nicht heißt, dass es deswegen auch denkt. In seiner Analyse erinnert der italienische Philosoph Maurizio Ferraris daran, dass die digitale Revolution letztlich aus dem Wettrüsten vor und während der beiden Weltkriege sowie im Kalten Krieg hervorgegangen ist. Die Kryptografie, also die Theorie der Verschlüsselung diente wesentlich militärischen Zwecken. Und in ihrem Rahmen ist es zu massiven Fortschritten gekommen, ohne welche die Menschheit heute nicht im Informationszeitalter leben würde.
Im Internet herrscht ein unablässiger Cyberkrieg
Maurizio Ferraris zufolge ist das Internet daher zwangsläufig der Austragungsort eines unablässigen Cyberkriegs. Diese findet nicht zusätzlich zum Internet statt. Dieses ist als solches nichts anderes als ein Schlachtfeld, das dabei keineswegs bloß virtuell ist. Weil es Informationen über die Wirklichkeit enthält, die nicht nur aus Informationen besteht, ist es mit der analogen Wirklichkeit, in der die Menschen leben, verzahnt. Man kann beispielsweise Hotels nur dann online buchen, wenn es Hotels auch außerhalb des Internets gibt.
Bekanntlich haben die sozialen Transaktionen im Internet teils grausige Konsequenzen im Leben von Menschen. Man denke nur an die Gewalt, die in Internetforen ausgeübt wird und die so manchen Suizid zur Folge hat. Auch politische Umbrüche bereitet die neue Öffentlichkeit des Internets vor, beziehungsweise erzeugt sie erst. Das Internet ist keine ferne Welt von „World of Warcraft“. Es ist selber sozusagen ein reales Kriegsspiel, da die Züge, die man dort ausführt, insgesamt Konsequenzen außerhalb des Internets haben. Quelle: „Der Sinn des Denkens“ von Markus Gabriel
Von Hans Klumbies