Die globale Digitalisierung ist die wahre Zeitenwende

In ihrem neuen Buch „Alles und nichts sagen“ geht Eva Menasse der Frage nach, was die digitale Massenkommunikation zwischenmenschlich angerichtet hat. Denn die Digitalisierung aller Lebensbereiche ist mit einer Wucht und Geschwindigkeit über die Menschheit hereingebrochen wie keine andere Erfindung zuvor. Eva Menasse schreibt: „Sie verändert sich und uns immer weiter, beständig nur in ihrem lawinenhaften Charakter.“ In eineinhalb Jahrzehnten sind die Bedingungen des Menschseins grundlegend andere geworden. Die globale Digitalisierung ist daher die einzige und wahre Zeitenwende. Die Grundlagen des Zusammenlebens haben sich fundamental verändert. Die Ansprüche, die Ungeduld und der Hass auf die Anderen sind gewachsen. Die Romane der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse sind vielfach ausgezeichnet worden.

Ungleichheiten aller Art sind in Verruf geraten

Eine der größten Veränderungen durch die weltweit ungefilterte Massenkommunikation ist für Eva Menasse folgende: „Da alle gleichberechtigt und barrierefrei miteinander sprechen und streiten, sind Ungleichheiten aller Art in Verruf geraten.“ In einem falsch verstandenen, ungenauen Brei aus „Teilhabe“ und „Freiheit“ ist vergessen worden, dass es Strukturen und Begrenzungen nicht nur gibt, sondern auch geben muss. Zudem erschafft die digitale Kommunikation eine Dauerspannung zwischen Individuum und Masse. Dabei muss sich jedes Ich, das nicht untergehen will, enorm aufblasen.

Eva Menasse möchte argumentieren, dass die Digitalmoderne die größte Herausforderung für die menschliche Ich-Konstruktion darstellt, die es je gab. Ungeheure und entgegengesetzte Kräfte wirken darauf ein. Solche, die es aufblähen, und solche, die es als bloßen Datenlieferanten in unübersichtlichen Massen verschwinden lassen wollen. Das eitle Ich ist von Anfang an der Adressat der digitalen Konzerne gewesen. Sie versprechen ihm ein Paradies unbegrenzter Möglichkeiten, ohne dass er sich auch nur vom Bett oder Stuhl erheben muss.

Den öffentlichen Diskurs prägen Erosion und Brutalisierung

Die digitale Kommunikation erzeugt fatale Illusionen von Gleichheit und Nähe. Eva Menasse schreibt: „Durch klassische Sinnestäuschung rückt einem die große, furchtbar komplizierte und gewalttätige Welt dauernd auf den Pelz.“ Die Digitalisierung aller Kommunikation ist zudem eine hinreichende Erklärung für die Erosion und Brutalisierung des öffentlichen Diskurses. Dazu zählen die weitreichende Vernichtung von Anstand, Takt und Großmut zwischen Menschen, auch in friedlichen Ländern. Das ist messbar und strahlt zurück.

Die digitale Massenkommunikation führt die Eindeutigkeit, die sie zum Herrschen braucht, notfalls mit Gewalt herbei. Sie weist sie Menschen ihre Rollen und ihre Identitäten gegen ihren Willen zu. Und dabei schneidet sie ihnen die Vieldeutigkeit, ihre ungeordnete, ausgefranste Menschlichkeit ab. Sie besteht auf Schlagwort, Stichwort, Auffindbarkeit und Berechenbarkeit. Mit dem genialen Begriff von Steffen Mau wird sie zur „Sortiermaschine“. Diese zieht ganz neue, fast unüberwindliche Grenzen und schreibt sie für alle Ewigkeit fest.

Alles und nichts sagen
Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne
Eva Menasse
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Gebundene Ausgabe: 185 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-462-00059-7, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies