Die humanistische Tradition wurde seit jeher von einem breiten und langen Schatten begleitet, den man als antihumanistische Tradition bezeichnen könnte. Sarah Bakewell erläutert: „Während Humanisten die Elemente des menschlichen Glücks und der menschlichen Vortrefflichkeit benennen, zählen die Antihumanisten ebenso eifrig unser Elend und unsere Schwächen auf.“ Sie weisen auf zahlreiche Defizite der Menschen hin, auf die Unzulänglichkeiten ihrer Talente und Fähigkeiten, Probleme zu bewältigen und einen Lebenssinn zu finden. Antihumanisten missbilligen oft die Vorstellung, sich an irdischen Vergnügungen zu erfreuen, und plädieren stattdessen für eine radikale Umgestaltung des Lebens der Menschen. Entweder indem sie sich von der materiellen Welt abwenden oder indem sie ihre Ansichten – oder sich selbst – dramatisch verändern. Sarah Bakewell lebt als Schriftstellerin in London, wo sie Creative Writing an der City University lehrt und für den National Trust seltene Bücher katalogisiert.
Manche frühe Christen waren extrem humanistisch
In der Ethik halten Antihumanisten Wohlwollen oder persönliche Bindungen für weniger bedeutsam als Gehorsam gegenüber den Vorschriften einer höheren Autorität, sei sie religiös oder säkular. Sarah Bakewell ergänzt: „Und statt unsere Spitzenleistungen als Ausgangspunkt für weitere Verbesserungen wertzuschätzen, neigen sie zu der Ansicht, der Mensch müsse vor allem erniedrigt werden.“ Im konfuzianischen Denken zum Beispiel fand die von Mengzi vertretene Philosophie ihren Gegenpol in Xunzi, der die menschliche Natur in ihrem ursprünglichen Zustand als „verabscheuungswürdig“ bezeichnete.
Xunzi und Mengzi waren sich einig, dass Bildung nützlich ist. Aber Mengzi zufolge braucht man sie, um die natürliche Veranlagung zur Tugend zur Entfaltung zu bringen, während Xunzi meinte, man bräuchte sie, um sich in eine ganz andere Form zu biegen. Sarah Bakewell weiß: „Auch das Christentum bot beide Möglichkeiten an. Es gab frühe Christen, die extrem humanistisch waren. Für sie war das Lob des Menschen zugleich das Lob Gottes. Schließlich hat Gott uns so geschaffen.“
Vergnügen und Errungenschaften befriedigen nur die Eitelkeit
Der Theologe Augustinus von Hippo formulierte als Antihumanist die Erbsünde, der zufolge das Böse im Menschen verwurzelt ist und sogar Neugeborene sich in einem defizitären Zustand befinden, aus dem sie ihr Leben lang Erlösung suchen sollten. Den verheerendsten Angriff auf die menschliche Selbstwertschätzung führte in den 1190er Jahren Kardinal Lotario dei Segni, bevor er Papst Innozenz III. wurde, mit seinem Traktat „Vom Elend des menschlichen Daseins“.
Sarah Bakewell stellt fest: „Sinn und Zweck dieser Feier des Horrors ist es, uns wachzurütteln, damit wir die Notwendigkeit erkennen, einen anderen Weg einzuschlagen; damit wir uns von dem abwenden, was Augustinus den Menschenstaat genannt hat, uns dem Gottesstaat zuwenden. Was wir in dieser Welt für Vergnügen und Errungenschaften halten, ist nur Eitelkeit.“ Der Mystiker und Mathematiker Blaise Pascal schrieb sehr viel später: „Sucht keine irdische Zufriedenheit, erhofft nichts von den Menschen. Euer wahres Gut liegt allein in Gott.“ Quelle: „Wie man Mensch wird“ von Sarah Bakewell
Von Hans Klumbies