Die Bürger der Polis lenken ihre Geschicke selbst

Am Ende des hellenistischen Mittelalters sprach man zum ersten Mal von der Stadt, der Polis. Dabei handelte es sich um eine autonomen Einheit, die ihre eigenen Geschicke lenkte. An ihren Entscheidungen waren oft alle Bürger in freien Diskussionen direkt beteiligt. Die politische Struktur dieser Poleis war extrem variabel und komplex. Es gab Monarchien, Aristokratien, Tyranneien, Demokratien, wettstreitende politische Parteien und Verfassungen. Eine davon war die Verfassung von Solon, die zuerst formuliert und dann wieder umgeschrieben wurden. Carlo Rovelli ergänzt: „Es wird experimentiert: Verschiedene Wege, die kommunale Struktur zu organisieren und zu leiten, werden ausprobiert und wieder verworfen.“ Die griechischen Poleis waren Stätten, wo eine breite Klasse von Bürgern miteinander diskutierten. Sie berieten darüber, wie man die Macht verteilen soll und wie sich Probleme am besten lösen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Alle Gesetze werden ständig neu diskutiert

Parallel zu dieser Desakralisierung und Säkularisierung des öffentlichen Lebens, das aus den Händen göttergleicher Könige in die Bürger überging, kam es zu einer Desakralisierung und Säkularisierung des Wissens. Anaximander zum Beispiel suchte ein Gesetz, um den Kosmos zu begreifen. Dieses war ein Pendant des Gesetzes, dass die Bürger der griechischen Städte suchten, um ihr kommunales Leben zu organisierten. In beiden Fällen handelte es sich nicht wie früher und ein göttliches Gesetz.

Und in beiden Fällen wird dieses Gesetz nicht ein für alle Male von oben nach unten weitergegeben, sondern ständig neu diskutiert. Die antiken Kosmologien bildeten die Gründungsmythen. Sie erzählen von einer Welt, in der ein großer Gott die Ordnung der welt aufrechterhält, ob er sich nun Marduk oder Zeus nennt. Nach einer Zeit der Verwirrungen und Konflikte triumphiert dieser Gott und stabilisiert die globale Ordnung. Diese umfasst gleichzeitig die kosmische, die soziale und die moralische Ordnung.

Öffentliche Kritik kann zu den besten Ideen führen

Dann verjagten die griechischen Städte ihre Könige. Denn sie hatten festgestellt, dass ein Kollektiv hochzivilisierter Menschen keinen Gottkönig braucht, um zu existieren. Dass es sogar ganz im Gegenteil ohne Gottkönig besser läuft. In diesem Moment befreiten sich die Menschen von ihrem Joch und unterwarfen sich nicht länger Schöpfern und gesetzgebenden Göttern. Und das eröffnete ihnen neue Wege, um die Welt zu verstehen und zu ordnen. In einer Demokratie können die besten Entscheidungen aus einer Diskussion zwischen allen Bürgern erwachsen.

Es heißt zuzugeben, dass öffentliche Kritik zu den besten Ideen führen kann und dass es möglich ist, zu debattieren und zu vernünftigen Schlüssen zu kommen. Dies sind auch genau die Hypothesen, auf denen die naturwissenschaftliche Suche nach Wissen basiert. Naturwissenschaften und Demokratie gründen sich daher auf dieselbe kulturelle Basis: auf die Entdeckungen der Effizienz von Kritik und Dialog unter Gleichberechtigten. Anaximander, der offen seine Lehrer Thales kritisierte, tat nichts weiter als eine Praxis umzusetzen, die auf der Agora von Milet bereits geübt wurde. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies