Rüdiger Safranski stellt fest: „Kein Autor vor Michel de Montaigne hat so gedankenreich das Hohelied von Gewohnheit und Übung angestimmt.“ Und es ist bezeichnend, dass er dieses Thema beim Nachdenken über den Tod entdeckt. Es heißt zwar: eine Erfahrung „machen“. In Wirklichkeit aber widerfährt sie einem, im günstigsten Fall wird sie einem geschenkt, und für Michel de Montaigne ist es die große Natur, die nimmt und gibt. Und darum schreibt er in einem der letzten Essays, nicht lange vor seinem Tod: „Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es soweit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für sich übernehmen. Grübelt also nicht darüber nach.“ Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Gott und das Jenseits lässt Michel de Montaigne auf sich beruhen
Von der Natur ist die Rede, nicht von Gott. Das Thema des Weiterlebens nach dem Tod spielt für Michel de Montaigne keine Rolle oder doch nur in der verminderten Form des Ruhms. Gott und das Jenseits lässt Montaigne auf sich beruhen. Sie gehören in die Glaubenswelten, die man anerkennen kann, aber mit Vorsicht, denn sie sind ein „Tummelplatz für Betrügereien“. Michel de Montaigne folgt den so schweifenden Bewegungen des menschlichen Geistes bis in seine tiefsten und dunkelsten Winkel.
Er findet manch Überraschendes in den dunkelsten Winkeln, doch die Glaubenswelten, Gott oder den Teufel, findet er dort nicht. Rüdiger Safranski weiß: „Ganz anders als Martin Luther, der mit seinem Erlösungsverlangen auch in seine dunkelsten Winkel vorstieß, um dort dann Geister wachzurufen und in die Welt zu bringen, die dem skeptischen Montaigne als neuerungssüchtiger Wahnsinn erschienen.“ Der Skeptiker Michel de Montaigne zweifelt nicht an allem und auch nicht immer.
Die Vernunft ist ein Navigator durch das Leben
Michel de Montaigne geht nur auf Distanz zu den kollektiven Fanatismen. Rüdiger Safranski erläutert: „Skepsis ist ein Mittel, sich vor den Zusammenrottungen auf dem Felde des Geistes zu bewahren. Sie ist die Selbstverteidigung des Einzelnen gegen die Zwänge der gesellschaftlichen Vergesellschaftung.“ Skepsis ist der wache Sinn für den Einzelfall und die Weigerung, ihn im Allgemeinen aufgehen und verschwinden zu lassen. Deshalb hält Michel de Montaigne unbedingt an der Erfahrung fest und achtet darauf, sich nicht von den Gespenstern der Meinungen verhexen zu lassen.
„Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes“, lautet ein Aphorismus von Johann Wolfgang von Goethe. Er könnte allerdings genauso gut von Michel de Montaigne stammen. Vernunft ist für Montaigne nichts anderes als diese Wachheit und Aufmerksamkeit für das Wirkliche im Einzelfall. Doch nicht nur das. Rüdiger Safranski erklärt: „Vernunft nimmt nicht nur wahr, sie orientiert auch. Mit ihr navigieren wir durchs Leben.“ Sie ist für Montaigne ein Hilfsmittel, das einen Menschen mit seinem Leben zufrieden machen kann und soll. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski
Von Hans Klumbies