John Locke kennt keine Tabus

Kategorien wie Gerechtigkeit, Treue, Schuld, Sünde, Gewissen, alles, woran sich Menschen zu orientieren pflegen, sind nur temporäre Vereinbarungen, Verhandlungssache. John Locke behauptet das nicht einfach, sondern belegt seine These mit reichem empirischem Material. Jürgen Wertheimer erläutert: „Eine Art Gehirnforschung aus dem Geist der anthropologischen Expertise, eine Ethnophilosophie ohne Tabus und Grenzen der Schicklichkeit.“ Es beginnt ein Großreinemachen im Augiasstall der Gewohnheiten, der Vorurteile und mentalen Restbestände aller Couleur. Wenn Menschen das, woran sie zu glauben gewohnt sind, für unumstößliche Wahrheiten halten, benehmen sie sich nicht anders als Kinder, die man blindem Gehorsam lehrte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass letztlich Gott und die Welt auf dem Spiel stehen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Ideen bestimmen die Wahrnehmung der Menschen

Selbst „Gott“ ist für John Locke nichts als ein Konstrukt aus Ideen, Begriffen, Lehrsätzen – Resultat von Kreationen des menschlichen Geistes. Man weiß heute, was er als Forscher spekulativ erschließen musste. Wahrnehmungsmuster lenken die sinnlichen Eindrücke, das heißt, Ideen bestimmen, was ein Mensch wahrnimmt. Reflexion über Wahrnehmungsmuster produziert Veränderung bis hinab in die Definition dessen, was Menschen als Wirklichkeit akzeptieren oder bestreiten. Sensationen, Reflexionen, Einstellungen, Urteile, Handlungen stehen in permanentem Austausch.

Das menschliche Gehirn formt Module, Modi für Erinnerungsprozesse, Emotionales, willentliche Entscheidungen, Irritationen, Klarheiten. Ja auch und gerade das Konzept „Wahrheit“ gerät in den Verdacht, „Konstrukt“ zu sein. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Alle substanzielle Gewissheit, alles naive Grundvertrauen in die Welt wird dadurch ausgehöhlt.“ Später werden die Schattenseiten dieser „kopernikanischen Wende des Denkens“ mehr und mehr ins Zentrum rücken. Um 1700 aber dominiert der unverhohlene Triumpf, endlich Licht ins Dunkel gebracht zu haben.

Voltaire feiert Isaac Newton

Und die zentrale „Lichtgestalt“ war Isaac Newton (1642 – 1724), kritisch verehrt von allen progressiven Denkern bis hin zum „Enlightenment“ des 18. Jahrhunderts. Der große Voltaire hat in seinen „Letters on the English“ (1733/34) niemanden mehr gefeiert als Isaac Newton. Dieser habe seinem Urteilt nach, selbst das Cartesianische System noch weiter entschlackt und gereinigt. Der Himmel, das Weltall, der Kosmos – ein gigantisches System, das nach mathematischen Gesetzen von Masse und Bewegung um sich und in sich selbst kreist.

Und in dem es nur Ursachen und Wirkungen über Millionen von Kilometern hinweg gibt. Wie Voltaire schreibt: „Das Licht ist für einen Cartesianer in der Luft; für einen Newtonianer kommt es in sechseinhalb Minuten von der Sonne.“ Eine derartige Präzision konnte man auch als Provokation empfinden. Das Weltbild Isaac Newtons wurde als „mechanistisch“ diskreditiert. Seine Argumentation lasse keinen Spielraum für die Rolle Gottes, so automatenhaft, mathematisch auskalkuliert sei sie. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies