Das Böse geht der Menschheit nicht verloren

In der griechischen Mythologie sind die Menschen ihren Ursprüngen entkommen, wie man einer Katastrophe entgeht. Aber sie brauchen sich nicht darum zu sorgen, dass ihnen das Böse verloren gehen könnte. Rüdiger Safranski stellt fest: „Es kehrt stets wieder – in veränderter Gestalt. Wie bei den Göttern, gibt es auch beim Bösen einen Gestaltwandel.“ Das „Böse“ ist kein Begriff. Nur ein Name. Ein Name wofür? Für vielerlei: für das Barbarische, die Gewalt, Realitätszerstörung. Aber neuerdings auch für das Chaos, den Zufall, die Entropie, die undurchschaubare und unberechenbare Komplexität. Was das Entscheidende ist: Das „Böse“ hat aufgehört, lediglich ein Name zu sein für das im engeren Sinne Moralische. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Heutzutage sind viele Menschen Atheisten

Es hat wieder einen kryptoreligiösen Unterton bekommen, so dass man die Vermutung wagen kann, der Zeitgeist nähere sich gleichsam vom anderen Ende der Skala, also vom „Bösen“ her, wieder dem religiösen Phänomen. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass heute die beunruhigenden Phänomene, unweigerlich in eine moralische und zuletzt sogar in eine religiöse Perspektive geraten, ohne dass man sich das richtig bewusstmacht. Rüdiger Safranski fügt hinzu: „Vielleicht sind wir wieder dabei, jene Erfahrungen zu machen, die einst dazu geführt haben, Religionen zu erfinden.“

In der Regel haben viele Menschen keine Religion mehr. Umso deutlicher spürt man aber den Phantomschmerz der abwesenden Religion. Rüdiger Safranski nannte die Religionen das Versprechen eines guten Gelingens. Aus einem Schöpfergott entwickelte sich ein sogenannten Erhaltergott. Auf ihn folgten schließlich die Gesetze der Selbsterhaltung. Diese setzen ja voraus, dass schon etwas da ist, was sie dann erhalten können. Es muss also einen Anfang geben, und vor dem Anfang waren Urknall und Urnebel.

Liebe ist der Seinsgrund

Dabei handelt es sich um schlechte Anfänge, weil sie immer schon angefangen haben, wenn es mit ihnen anfängt. An diesem Punkt, beim Anfang also, wird die eigenartige Abgründigkeit der biblischen Genesis – Gott schuf Himmel und Erde aus dem Nichts – spürbar. Gott war durch nichts gezwungen, eine Welt zu schaffen. Daher wird man auch keine zwingenden Gesetze entdecken können, die dazu führen mussten, dass es diesen Kosmos mit seinem Urknall gegeben hat.

Rüdiger Safranski: „Das ist modern gesprochen – absolute Kontingenz. Kontingenz heißt: Was es gibt, das hätte es genauso gut auch nicht geben können.“ Der Schöpfungsglaube weiß von dieser Kontingenz des Anfangs, aber er deutet sie als Akt der Liebe. Liebe ist der Seinsgrund – damit fängt alles an. Heute kommt es auf das Gefühl an, „gemeint“ zu sein. Man wünscht, sich selbst wie einen Text lesen zu können, der etwas bedeutet. Quelle: „Das Böse oder das Drama der Freiheit“ von Rüdiger Safranski in „Der Geist im Gebirge“ von Konrad Paul Liessmann (Hg.)

Von Hans Klumbies