Der religiöse Glaube ist eine innere Überzeugung

Die Religion ist für ein pluralisiertes Subjekt von besonderer, akuter Bedeutung. Auch in Bezug auf die Religion geht es für Isolde Charim darum, die Veränderung, welche die Pluralisierung bedeutet, in den Blick zu bekommen. Um diese Veränderung zu ermessen, muss man sich erst einmal der allgemeinen, der grundlegenden Funktionsweise von Religion, von Religiosität überhaupt, zuwenden. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist da ein guter Gewährsmann. Um zu erklären, wie Religion funktioniert, greift er immer wieder auf das Beispiel der tibetanischen Gebetsmühle zurück. Diese setzt man wie folgt in Gang: Man schreibt ein Gebet auf ein Papier, rollt es zusammen und steckt es in ebendiese Mühle. Und dann dreht man. Automatisch. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Der Glaube hat auch eine objektive Dimension

Das ist der springende Punkt: Man dreht automatisch, das heißt, man kann sich dabei, so Slavoj Žižek in der ihm eigenen Art, den „schmutzigsten und obszönsten Phantasien“ hingeben – „objektiv betet man“. Dieses Beispiel zeigt: Religiöser Glaube lässt sich nicht einfach auf eine innere Überzeugung, auf einen subjektiven Glauben beschränken. Religiöser Glaube ist vielmehr immer auch an etwas Äußerliches, an etwas ganz Materielles gebunden. Der Glaube hat also nicht nur eine subjektive, er hat auch eine objektive Dimension.

Isolde Charim ergänzt: „Die Objektivität des Glaubens funktioniert nur, wenn er von einem „organischen“ Umfeld getragen wird: von Familie, Tradition, Kultur. Religiöser Glaube ist nicht einfach eine innere Überzeugung. Sondern es stützen ihn auch äußere Dinge wie Institutionen.“ Darüber hinaus aber bedarf es einer Beziehung zu diesen äußeren Dingen. Bei der tibetanischen Gebetsmühle bedeutet das: Die innere Hingabe an das Ritual ist nur dann überflüssig, wenn der Gläubige Teil dieses Universums ist. Und wenn die religiöse Kultur, in der einer Mühle spirituelle Kraft zugesprochen wird, seine Welt ist.

Der Glaube ist eine besondere Art der Zugehörigkeit

Man muss an die Gebetsmühle „glauben“, um nicht innerlich glauben zu müssen. Erst dann sind auch abschweifende Phantasien möglich. In seiner traditionellen Form ist der religiöse Glaube also eine besondere Art der Zugehörigkeit, eine Form der Einbindung des Einzelnen in eine Gemeinschaft. Religion im traditionellen Sinn bettet den Gläubigen in ein ganzes soziales Universum ein. In dieser Welt weist sie dem Einzelnen seinen Platz zu – einen Platz, der durch die Tradition bestimmt wird.

Die Tradition kommt von den Vorfahren, durchquert die Individuen, die ihr nichts hinzufügen, und geht an die Kinder weiter. Religion ist also nicht nur eine vertikale Beziehung – zum Himmel, zu Gott. Sie ist auch eine horizontale Verbindung durch die Zeit hindurch, einen Verbindung des Einzelnen mit seinen Vorfahren und mit seinen Nachfahren. Religion befördert also nicht das Individuum. Sie reiht den Einzelnen vielmehr in eine Kette, in eine Generationenfolge ein. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies