Einst war Gott für das Schicksal verantwortlich

Wer hätte nicht schon mal versucht, dem Masterplan des Lebens auf die Spur zu kommen, dem Schicksal, dem Nicht-Wählbaren, dem Kontingenten? Fragen zu klären wie: Warum geschieht gerade dies mir, uns, ihnen? Der Mensch ist ein Warum-Wesen. Reinhard K. Sprenger erläutert: „Er sucht für jedes Phänomen eine Erklärung, eine Ordnung. Eine Ur-Sache. Und wenn er sie nicht findet, er-findet er eine.“ Früher war diese Ursache einsilbig: Gott. Wenn die Ernte ausblieb – Gott will uns strafen. Starb jemand zu früh – Gottes Wille. Hatte man Glück – Gott hat Gnade walten lassen. Den Extremfall etikettierte man als „Jüngsten Tag“. Man verbeuge sich vor dem Göttlichen, dem Unabänderlichen, was ein Mensch ist und wie ihm geschieht. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, ist einer der profiliertesten Führungsexperten Deutschlands.

Der Zufall ist ein Feind menschlicher Freiheit und Würde

Damit ist es vorbei. Friedrich Nietzsches berühmte Formulierung „Gott ist tot“ signalisierte das Ende der Bescheidenheit. Und den Beginn der Moderne. Diese hat ein Personaleinsatzproblem. Wer soll Gottes vakante Stelle besetzen? Wer „macht“ jetzt das Schicksal? Reinhard K. Sprenger erklärt: „Kandidaten sind vor allem jene, die nicht Gott sind: die Menschen. Aber auch sie haben nicht alles im Griff, nicht alles verläuft nach Plan. Diesen Fall erklärt man heute mit dem Zufall.“

Er ist das große Unerklärliche, eine Entgleisung in Gottes Räderwerk, der Plandurchkreuzer in Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“. Etwas kommt dazwischen, stellt sich quer zur Absicht. Nicht gewollt, nicht gewählt, weder notwendig, noch vorhersehbar. Ein Feind menschlicher Freiheit und Würde. Schallend lacht er über Beruhigungstechniken wie Risikokalkulation und Expertenautorität. Empörend. Seit Angedenken übt sich deshalb der Mensch, den Zufall zu bändigen, die Fülle der Möglichkeiten zu begrenzen, seine Welt zu ordnen und festzulegen.

Eine riesige Industrie verkauft nichts anderes als Angst

Reinhard K. Sprenger stellt fest: „Und je mehr der Moderne das gelingt, desto mehr leidet sie unter dem Restrisiko, desto mehr artikuliert sich ein extremes Bedürfnis, den Zufall möglichst vollständig aus dem Leben zu verbannen. Man will kontrollieren, alles, irgendwie, auch den eigenen Körper.“ Entsprechend storniert man den Zufall methodisch. Vorsorge, Plan, Versicherung, Back-up, Nummer Sicher – übrigens ein Wort aus dem Strafvollzug. Alles soll gleichbleiben, und wenn sich etwas ändert, dann bitte nur als willkürlich herbeigeführte Perfektionierung.

Das lässt sich ausbeuten. Von der Politik etwa, die verspricht, den Menschen vor dem Zustoßenden zu schützen. Auch die Wirtschaft lässt sich nicht lumpen: Es gibt eine riesige Industrie, die nichts anderes verkauft als Angst. Und sich nach der Pathologisierung der Zukunft selbst als Therapeutikum empfiehlt. Sogar im Pakt mit der Philosophie: „Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen.“ Wer wollte Georg Wilhelm Friedrich Hegel widersprechen? Quelle: „Gehirnwäsche trage ich nicht“ von Reinhard K. Sprenger

Von Hans Klumbies