Der Tod Gottes bringt die moderne Kultur hervor

Ein Ursprung des modernen Begriffs der Kultur ist der Tod Gottes. Vielleicht kann die Kultur die gottesförmige Lücke füllen, welche die säkulare Moderne gerissen hat. Terry Eagleton weist allerdings darauf hin, dass die Neuzeit gepflastert ist mit gescheiterten Gottessurrogaten. Nämlich von Vernunft, Geist, Kunst, Wissenschaft und Staat bis hin zu Volk, Nation, Menschheit, Gesellschaft, dem Unbewussten und Michael Jackson. Terry Eagleton ergänzt: „Unter diesen verpfuschten Ersatzangeboten für den Allmächtigen nimmt der Kulturbegriff einen besonderen Platz ein. Denn er ist einer der plausibelsten Versuche ist.“ Tatsächlich gibt es eine offenkundige ideologische Beziehung zwischen dem Wort „Kultur“ und dem religiösen Begriff „Kult“. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

In der Religion geht es um fundamentale Wahrheiten

Eine große Zahl ästhetischer Begriffe wie Symbol, Schöpfung, Inspiration, Offenbarung, Einheit, Epiphanie, Autonomie und so fort ist der Theologie entlehnt. Wie die Religion bezieht die Kultur einige der höchsten Werte auf alltägliche Handlungen. Ebenfalls wie in der Religion geht es in der Kultur um fundamentale Wahrheiten. Dabei handelt es sich um spirituelle Tiefe, richtiges Verhalten, unvergängliche Prinzipien und eine gemeinschaftliche Lebensform. Auch die Kultur hat ihre Rituale, Hohepriester, Kultobjekte und Kultstätten.

Der englische Dichter und Kulturkritiker Matthew Arnold hält Kultur für absolut und transzendent, während F. R. Leavis, einer der einflussreichsten Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, in der Literatur tatsächlich eine Ersatzreligion sieht. Sein Kollege I. A. Richards erklärt, die Dichtkunst „ist in der Lage, uns zu retten“. Eine Zeitlang schien es also gute Gründe für die Annahme zu geben, die Kultur könne in Gottes Fußstapfen treten – in einer Epoche, in der sein scheinbares Verschwinden zu einer Ursache sozialer Instabilität zu werden drohte.

Die Kultur kann die Religion nicht ersetzen

Man meinte, die Sozialordnung hänge von der Moral ab und die Moral wiederum habe traditionell auf dem Glauben beruht. Die Religion ist machtvoller, dauerhafter, universeller, widerstandsfähiger und tiefer verwurzelt als jede andere Form volkstümlicher Kultur in der Geschichte der Menschheit; sie hat den Graben zwischen Masse und Minderheit, Laientum und Priesterschaft, Alltagsverhalten und absoluter Wahrheit, Kultur als spirituellem Phänomen und Kultur als anthropologischem Phänomen überbrückt.

Und wenn der Einfluss der Religion auf die Menschheit zu schwinden beginnt, dann müssen sich die Werte, die ihr lieb und teuer sind, eine andere Bleibe suchen. Trotz aller Versprechen erwies sich die Kultur jedoch außerstande, den Stab vom höchsten Wesen zu übernehmen. Als Minderheitsphänomen konnte sie in ihrer ästhetischen Bedeutung im Vergleich zu den Milliarden Menschen, welche die Religion zu inspirieren vermochte, nur einen Bruchteil der Gesellschaft an sich binden – während sie im weiteren anthropologischen Sinn zu sehr von Konflikten zerrissen war, um für Einheit, Erbauung und Trost sorgen zu können. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies