Es gibt einen moralischen Fortschritt

Markus Gabriel fordert: „Forschung muss sich am moralischen Wohl der Menschheit ausrichten.“ Wären alltägliche Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn man dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täte, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage. Doch das würde bedeuten, dass man niemals in der Lage wäre, moralisch zu handeln. Die Handlungen wären ein Spielball des Zufalls, den man allenfalls noch annähernd mit verhaltensökonomischen oder evolutionsbiologischen Modellen beschreiben könnte. Nur so könnte man statistische Aussagen darüber machen, wie Menschen sich verhalten und wie man sie lenken kann. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Der Mensch ist weder gut noch böse

Doch dieser Eindruck täuscht zum Glück. Markus Gabriel weiß: „In Wirklichkeit handeln und denken wir heute nämlich moralisch besser als früher. Es gibt moralischen Fortschritt – der allerdings kein Automatismus ist.“ Zu moralischem Fortschritt gehören die Anerkennung von Tierrechten und Kinderschutz. Ebenso dazu zählen die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehe sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Es gibt sogar noch einen größeren Anlass zur Hoffnung. Denn: Es ist prinzipiell unmöglich, dass man das Richtige gar nicht tun kann, sonst wäre es nicht das Richtige.

Eine moralisch relevante Aufforderung, ein ethischer Imperativ, den man prinzipiell nicht erfüllen kann, weil die Sachlage zu komplex ist, ist ein Unding. Denn die Menschen handeln überwiegend so, wie sie sollen. Dabei erkennen sie immer wieder neue nichtmoralische Tatsachen. Auch sind Menschen nicht radikal böse in dem Sinne, dass sie von Natur aus lediglich egoistischen oder gar gewalttätigen Impulsen folgen. Der Mensch ist weder von Natur aus gut noch von Natur aus böse, sondern von Natur aus frei.

Die Menschheit arbeitet an ihrer Selbstzerstörung

Markus Gabriel betont: „Und Freiheit bedeutet in moralischen Dingen, dass wir das Vermögen haben, das Richtige oder das Falsche zu tun.“ Eine Gesellschaft, in der die Mehrheit der Handlungen der Menschen böse wäre, würde sich selbst zerstören. Das ist eine der Haupteinsichten der Moralphilosophie Immanuel Kants. Das bedeutet freilich, dass die Menschheit sich eingestehen muss, dass sie derzeit weiterhin fleißig an einer radikal bösen Selbstzerstörung arbeitet.

Denn die Menschheit produziert Unmengen von Plastikmüll, stößt unvorstellbare Mengen CO2 aus, konsumiert Billigfleisch aus Massentierhaltung und holzt den Regenwald ab. Solange die Menschheit nicht erkennt, dass diese Vorgänge radikal böse sind, bleibt der moralische Fortschritt aus, den sie dringend benötigt. Eine Gesellschaft, in der die Bürger überwiegend das moralisch Falsche täten, wäre genauso instabil wie eine Menschengruppe, die sich in allen nichtmoralischen Tatsachenfragen täuscht. Quelle: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies