Eine äußerst bemerkenswerte Ansammlung von Universalgelehrten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fand sich in Deutschland, einer Kulturnation, die seinerzeit noch kein Nationalstaat war. Peter Burke nennt ein Beispiel: „Der Schweizer Albrecht von Haller, Professor für Medizin, Anatomie und Botanik in Göttingen, war auch als Literaturkritiker, Dichter und Romancier aktiv.“ Immanuel Kant könnte ebenfalls mit einbezogen werden, da sich seine Interessen keineswegs auf Philosophie beschränkten. Was man heute als Psychologie und Anthropologie bezeichnet – Disziplinen, zu denen er Beiträge lieferte – bildete zu seiner Zeit zwar noch einen Teil der Philosophie, doch Kant schrieb zudem über Kosmologie und physische Geographie. Sechzehn Jahre lehrte Peter Burke an der School of European Studies der University of Sussex. Im Jahr 1978 wechselte er als Professor für Kulturgeschichte nach Cambridge ans Emmanuel College.
Jede Sprache hat ihren eigenen Charakter
Ihre Blütezeit erlebte um das Jahr 1800 eine Gruppe, zu der Johann Gottfried Herder, sein Freund Johann Wolfgang von Goethe sowie die mit Goethe befreundeten Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt gehörten. Peter Burke blickt zurück: „Herder, der 1803 starb, lieferte wichtige Beiträge zur Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft. Schon als junger Gelehrter gewann er den von der Berliner Akademie der Wissenschaften jährlich ausgelobten Preis mit seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772).“
Johann Gottfried Herder vertrat die These, dass jede Sprache ihren eigenen Charakter habe. Er sammelte und veröffentlichte auch Volkslieder, die er als „Stimmen der Völker“ im Sinne der ganzen Nation betrachtete. Herders Begriff des Volksgeists implizierte die Existenz autonomer Kulturen im Plural, im Unterschied zu früheren Fortschrittsvorstellungen einer einheitlich genormten „Zivilisation“. Das Volksgeist-Konzept sollte später eine wichtige Rolle in der Entwicklung neuer Disziplinen wie Folklore und Kulturanthropologie spielen und wurde von Franz Boas aufgegriffen, einem weiteren deutschen Universalgelehrten.
Johann Wolfgang von Goethe hatte ein faustisches Verlangen nach Wissen
Peter Burke weiß: „Herders Interessen waren noch breiter gestreut. Eins seiner berühmtesten Werke „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 – 1791), enthielt Gedanken zu dem, was heute als „Big History“ bekannt ist, indem es den Zustand der Erde vor dem Auftauchen menschlicher Wesen erörterte.“ Johann Gottfried Herder lieferte außerdem einen Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie, wie man sie heute nennt, wobei der die Rolle der Analogie für wissenschaftliche Entdeckungen und die Bedeutung des Prototyps – Hauptform – betonte, der nur in seinen Variationen sichtbar wird.
Herders jüngerer Freund Johann Wolfgang von Goethe war nicht nur Dichter, sondern seinem Selbstverständnis nach auch Gelehrter und Wissenschaftler. Peter Burke erläutert: „Dass er den Doktor Faustus zum Protagonisten seines berühmtesten Dramas machte, kam nicht von ungefähr, schließlich hatte Goethe selbst ein geradezu faustisches Verlangen nach vielerlei Wissen.“ Er studierte Sprachen mit großer Begeisterung – Latein, Griechisch, Französisch, Italienisch, Englisch, dazu etwas Hebräisch und Arabisch. Quelle: „Giganten der Gelehrsamkeit“ von Peter Burke
Von Hans Klumbies