Die Kunst orientierte sich einst an der Nachahmung

Die Kunst zählt zu den großen Werten der europäischen Kultur. Dabei nimmt sie selbst an dem Wertekanon der Gesamtkultur Anteil. Silvio Vietta sagt: „Solange die Wahrnehmung der Welt in der europäischen Denkgeschichte als eine Art Abdruck der Dinge im Bewusstsein des Menschen begriffen wurde, orientierte sich auch die Kunst an dem Begriff der Nachahmung bzw. Mimesis.“ In seiner Poetik definiert Aristoteles das Drama als eine Form der „Mimesis der Handlung“ des Mythos. Die europäische Kunst und auch Literatur begriffen sich selbst dann im Weiteren als „Nachahmung der Natur“. Diese Vorstellung dominierte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Und dieser Auffassung entsprach auch eine Praxis des Zeichnens und Malens „nach der Natur“. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

Kunst ist die bestimmte und freie Produktion

Die moderne Entdeckung der Produktivität des Künstlers wertet den Begriff der „Einbildungskraft“ auf. Mit seiner Kreativität und aus ihr heraus produziert der Künstler sein Werk. Auf diese Weise dringt die Produktivität des Denkens auch in die Ästhetik und Literaturtheorie und definiert diese Künste neu. Nämlich als Akte „der Produktivität des Künstlers“, mit denen dieser eine „neue Welt“ erzeugt und als „Kunstwerk“ in die Welt setzt.

Silvio Vietta erläutert: „Die Umbruchstelle von der alten zur neuen Ästhetik liegt in der Frühromantik und kann vor allem aus den Schriften des Novalis abgelesen werden.“ Novalis betont, „dass es nur der Geist ist, der die Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs präsentiert. Und dass das Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in den Erscheinungen schon fertig liegt“. Kunst bedeutet nach Novalis die „Fähigkeit bestimmt und frei zu produzieren“.

Die Künstler schöpfen das Werk aus sich selbst heraus

Novalis sieht das Geheimnis der Kunst eben darin, dass der Maler, der Musiker, der Poet nicht nach der Natur arbeiten, sondern das Werk aus sich selbst schöpfen. Die moderne europäische Produktionsästhetik ist selbst eine produktive Reaktion auf die Philosophie des eigenständigen Denkens. Diese formulierten insbesondere Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte. Novalis hat diese Autoren intensiv studiert und überträgt praktisch deren Gedanken der Produktivität des Denkens in die Ästhetik.

Dabei ist für Novalis der Künstler nur der Sonderfall einer in jedem Menschen angelegten eigenen Produktivität: „Fast jeder Mensch ist in geringem Grad schon Künstler.“ Prinzipiell verfügt jeder Mensch über die Möglichkeit zu eigenen geistigen Produktivität. Der Künstler hat dieses nur mehr aktiviert als der normale Bürger. Und der Künstler denkt anders als der Philosoph: Wenn dieser in „Begriffen“ arbeitet, so jener in „ästhetischen Material“, seinen dies beim Maler Farben und Formen, in der Literatur das Bild- und Ideenmaterial der Sprache oder auch beim Musiker das Reich der Töne. Quelle: „Europas Werte“ von Silvio Vietta

Von Hans Klumbies