Vertrauen und Sich-verlassen-auf unterscheiden sich

Ist es sinnvoll, zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf zu unterscheiden? Martin Hartmann antwortet: „Die Philosophie macht hier oft einen Unterschied, im Englischen vor allem anhand der Begriffe „trust“ und „reliance“. Meine Antwort lautet: Ja, aber …“ Klar ist, dass die meisten Menschen im Alltag den Vertrauensbegriff breit verwenden. Sie unterscheiden nicht unbedingt zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Oft können sie ohne Unterschied sagen, dass sie sich auf jemanden verlassen oder ihm vertrauen. Die Philosophie dagegen unterscheidet oft ganz klar zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Jedoch ist nicht immer deutlich, was aus diesem Unterschied praktisch folgt oder ob ihm echte Unterschiede in den Einstellungen der Menschen entsprechen. Bekannt ist, dass Immanuel Kant sehr regelmäßig um 19 Uhr sein Haus verließ und einen Spaziergang machte. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

Immanuel Kant ging jeden Tag um 19 Uhr spazieren

Man sagt, die Königsberger konnten ihre Uhr nach diesem Spaziergang stellen. Gab es einmal keine Übereinstimmung zwischen der Uhrzeit und dem Spaziergang, ging man eher davon aus, dass etwas mit der Uhr nicht stimmte, als dass man Immanuel Kant eine Unregelmäßigkeit unterstellte. Man konnte sich also darauf verlassen, dass Kant jeden Tag um 19 Uhr seinen Spaziergang aufnahm. Konnte man auch sagen, dass man darauf vertraute? Eher nicht, denn es scheint etwas zu fehlen. Aber was?

Offenbar ging Immanuel Kant nicht mit der Absicht spazieren, seinen Mitbürgern eine Verlässlichkeit zu signalisieren, sondern einfach nur, weil es ihm Vergnügen bereitete. Martin Hartmann ergänzt: „Seine Motive richteten sich also nicht auf seine Mitbürger, sondern einzig auf sich selbst. Wenn wir wissen, dass eine Freundin immer wieder in gleicher Weise auf bestimmte Reizwörter reagiert, dann können wir uns auch darauf verlassen.“ Aber man vertraut nicht darauf, dass sie so reagieren wird.

Vertrauen kann verraten werden

Wenn man die Gewohnheiten eines Menschen kennt, etabliert diese Kenntnis Verlässlichkeit. Wenn man aber jemandem Vertrauen entgegenbringt, dann erwartet man, dass seine Absichten und Motive auf dieses Vertrauen reagieren oder auf irgendeine Weise darauf antworten. Immanuel Kant musste nicht einmal wissen, dass andere seinen Spaziergang als Ersatzuhr nutzten, um verlässlich zu sein, es war einfach so. Jemand kann also verlässlich sein, ohne dass er sich auf diejenigen, die sich auf ihn verlassen, beziehen muss.

Martin Hartmann stellt fest: „Die Verlässlichkeit beruht einfach auf einer Kenntnis der Person, einer Kenntnis ihrer Gewohnheiten, Marotten oder Ticks.“ Vertrauen kann im Gegensatz zu Verlässlichkeit verraten werden. Und dieser Verrat kann einen Menschen zutiefst treffen. Der Vertrauende ist besonders verletzbar. Denn das verratene Vertrauen hat viel mehr mit ihm zu tun hat als die Unterbrechung eines verlässlichen Verhaltens. Die Empfängerin des Vertrauens hat ihn verraten und nicht einfach nur eine Gewohnheit verändert, auf die man sich verlassen kann. Quelle: „Vertrauen“ von Martin Hartmann

Von Hans Klumbies