Die Kultur ist eine Form der Natur

Die Formel von der Kultur als einer Form der Natur verwendet Volker Gerhardt schon seit einigen Jahren. Das ist lange genug, um zu erfahren, dass sie unter Geisteswissenschaftlern Befremden auslöst. Das wundert Volker Gerhardt nicht, hatte er doch selbst eine Beschäftigung mit der „Natur des Bewusstseins“ und der „Naturgeschichte der Freiheit“ nötig. Damit machte er sich klar, dass die Opposition zwischen Natur und Kultur selbst unter einer Prämisse steht, die dem umfänglichen Begriff einer Naturgeschichte im Weg steht. Die Naturgeschichte umfasst die gesamte Entstehungsgeschichte des Weltalls. Und sie ist mit dem Auftritt des Menschen nicht zu Ende. Sie schließt auch das ein, was jetzt noch in der Zukunft liegt. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Der Mensch ist Teil der Natur

Für Immanuel Kant gehört auch der von ihm phantasievoll ausgemalte Sturz der Erde in die Sonne hinzu. Dabei handelt es sich um ein Feuerwerk, das mit dem Nachlassen der Umlaufgeschwindigkeit des Planeten und mit der Annäherung an das Zentralgestirn unausweichlich ist. Hier bliebe der Mensch auch dann ein Teil der Natur, wenn es ihm gelänge, vor dem Absturz der Erde in einen anderen Teil des Kosmos zu emigrieren. Die Formel von der „Kultur als Form der Natur“ wurde erstmals in einer Runde von Prähistorikern, Paläobiologen und Ethnologen vorgetragen.

Dort war man zwar erstaunt, dass ein Geisteswissenschaftler eine Kontinuitätsthese dieser Art vertritt. Volker Gerhardt betont: „Aber in der Deutung der historischen Befunde scheint sie sich inzwischen zu bewähren.“ Für viele Menschen ist es noch immer eine Zumutung, die mit der engen Verknüpfung von Kultur und Natur verbunden ist. Wie kann der Mensch als Teil der Natur begriffen werden, ohne ihm die Freiheit, sich selbst zu bestimmen, abzusprechen? Die theoretischen Schritte zur Lösung dieses unlösbar erscheinenden Problems sind jedoch denkbar einfach.

Die organische Natur entstand vor etwa vier Milliarden Jahren

Der erste besteht für Volker Gerhard in dem Zugeständnis, dass die Natur nicht nur aus mechanisch-physikalischen Vorgängen besteht. Sondern sie umfasst auch das Prozedere des Lebens. Das kann man zugeben, obgleich das Problem des Übergangs von der anorganischen zur organischen Natur noch nicht zureichend geklärt ist. Die hierbei in den letzten Jahrzehnten gemachten Fortschritte sind jedoch beachtlich. Deshalb ist es längst kein blinder Optimismus mehr, auch die einzelnen Schritte des vermutlich vor drei oder vier Milliarden Jahren vollzogenen Übergangs zu rekonstruieren.

Eine konsequent verfolgte naturgeschichtliche Perspektive nötigt zu der Annahme, dass der Übergang irgendwann erfolgt sein muss. Volker Gerhardt erklärt: „Denn es gibt organisches Leben auf der Erde und der Mensch gehört in seiner physiologischen Konstitution dazu. Und dass die Erde ihre Geschichte als langsam erkaltete Materie begonnen hat, die zunächst kein Leben zugelassen hat, ist wissenschaftlicher Konsens.“ Also muss das Leben irgendwann später begonnen haben. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt

Von Hans Klumbies