Das Mitleid ist der Kern des Gewissens

Das Mitleid gibt laut Jean-Jacques Rousseau allen Menschen anstelle jener erhabenen Maxime, der durch die Vernunft gestifteten Gerechtigkeit, eine Maxime der natürlichen Güte ein. Diese ist viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher als die vorangehende. Jean-Jacques Rousseau fordert: „Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.“ Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Nicht Immanuel Kants verkopfter kategorischer Imperativ, sondern das natürliche Gefühl des Mitleids ist der Kern des Gewissens und macht aus einem Menschen ein moralisches Wesen.“ In einer seiner Schriften führt Jean-Jacques Rousseau den Begriff der „Selbstliebe“ ein. Die Selbstliebe ist für ihn eine Grundbedingung dafür, dass ein Mensch seine Emotionen überhaupt positiv auf andere richten kann. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Die Eigenliebe ist die Hölle des Vergleichs

Allerdings kann die Selbstliebe als Grundbedingung empathischer Zuneigung regelrecht entarten oder auch verkümmern. Das zeigt sich symptomatisch daran, dass das Gefühl für anderen unterdrückt oder eingeschnürt wird. Wie es dazu kommt? Svenja Flaßpöhler erklärt: „Nun, durch instrumentelle Überlegungen, die aus der schädlichen – männlichen – Konkurrenz mit anderen resultieren und aus der Selbstliebe eine egoistische Eigenliebe – amour propre – machen. Die Eigenliebe ist die Hölle des Vergleichs.

Nämlich eine Begleiterscheinung der von Jean-Jacques Rousseau verhassten Zivilisation, in der man sich gezwungen sieht, mit anderen zu konkurrieren, nach Wertschätzung und Anerkennung zu streben. Sobald die Selbstliebe, so Rousseau, in Eigenliebe ausartet und vergleichend wird, bringt sie eine negative Reizbarkeit hervor. Denn sobald man die Gewohnheit annimmt, sich mit anderen zu messen, ist es unmöglich, nicht alles zu verabscheuen, was die eigene Person übertrifft. Die zivilisatorische Eigenliebe steht dem natürlichen Mitleid und dem gesunden Maß an Selbstliebe diametral entgegen. Sie ist der Inbegriff zivilisatorischer Entfremdung.

Jean-Jacques Rousseau betrachtete den Fortschnitt als bloße Degeneration

Svenja Flaßpöhler bringt es auf den Punkt: „Wo andere Fortschritt wähnen, erkennt Rousseau nur Degeneration. Würde Rousseau heute leben, sähe er sich womöglich durch die Prinzipien zeitgenössischer Aufmerksamkeitsökonomien mehr als bestätigt.“ Dazu zählen die digitale Hassrede, Klickraten, das Schielen auf Likes. Was, wenn nicht die kalte, instrumentelle amour propre, ist hier tonangebend? Kurzum: Dass die Menschheitsgeschichte eine Fortschrittsgeschichte im Sinne zunehmender Sensibilisierung wäre, lässt sich vor dem Hintergrund der rousseauschen Philosophie nicht erkennen.

Damit vertritt Jean-Jacques Rousseau exakt die entgegengesetzte Auffassung von Norbert Elias, die er in einer Schrift „Prozeß der Zivilisation“ dargelegt hat. Für den Soziologen des 20. Jahrhunderts sind Sensibilität und Sittlichkeit rückblickend der Effekt einer geschichtlichen Entwicklung. Diese machte aus enthemmten Rittern vornehme Edelmänner am Hofe. Für den Zeitzeugen Rousseau sind diese Höflinge indes nicht sensibel, sondern eitel, leicht kränkbar und kränklich und vor allem bedacht auf ihr Ehrgefühl. Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies