Charaktere sind oft widersprüchlich

Charaktere sind wandelbar, äußerst anpassungsfähig und oft genug in sich widersprüchlich. Richard David Precht ergänzt: „Auch hat man keine Tugenden, man besitzt sie nicht als unveräußerliches Eigentum. Es gibt keine durch und durch tapferen oder gerechten Menschen, die sich die Tugend der Tapferkeit oder der Gerechtigkeit einverleibt haben.“ Sondern es gibt Menschen, die auf unterschiedliche Weise tapfer sind und für die Gerechtigkeit situativ einen hohen oder geringen Wert darstellt. Ein tapferer Soldat kann beispielsweise feige im Umgang mit seiner Frau und seinen Kindern sein. Und ein gerechter Richter kann ungerecht zu seinen Geschwistern sein. Es gibt eitle Priester, die Demut predigen. Und es gibt Philosophen, die alle Weisheit der Welt reflektieren und ihr Leben gleichwohl höchst unklug führen. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Moral ist eine Frage des Kontextes

Die erste Korrektur die Moderne an Cicero sowie der gesamten Tugendethik vornimmt, ist die Einsicht, dass Moral eine Frage des Kontextes ist. Zwar lehren auch die Tugendethiker, dass Moral stets situationsbezogen ist. Aber sie nehmen doch an, dass sie ihr Zentrum in einem festen Charakter hat. Die Fragen „Was ist ein gutes Leben?“, „Was schulden wir anderen Menschen?“ und „Was sind ihre Rechte auf uns?“ schillern also zwischen zwei Polen.

Nämlich zwischen Situation und Kontext auf der einen und dem eigenen Selbstbild auf der anderen Seite. Einen Kriterienkatalog für gutes Handeln, wie die Tugendethiker ihn zusammenstellen, nützt deshalb nur begrenzt. Richard David Precht erläutert: „Es gibt keine Anweisung in Dilemma-Situationen, wenn Tugenden oder Wert miteinander kollidieren. Und er sagt, auf der Seite des Selbstbildes, nichts darüber aus, aus welchem psychischem Motiv heraus jemand etwas tut oder unterlässt.“

Ethik entsteht durch Tun und prägt das Sein

Ethiker, insbesondere in der Tradition Immanuel Kants, legen gemeinhin großen Wert zu unterscheiden, ob jemand das Richtige tut und aus welchem Motiv heraus jemand das Richtige tut. Ob Angst oder Einsicht der persönliche Motivator ist, ist nicht dasselbe. Und auch nicht ob man jemanden pflegt, um zu erben oder aus Empathie oder Pflichtgefühl. Das Gleiche gilt für das Tragen von Masken in der Covid-19-Pandemie. Ob Angst vor Strafen einen Menschen leitet oder Empathie, Solidarität und Pflichtgefühl, ist, ethisch betrachtet, nicht das Gleiche.

Das Zentrum der eigenen Ethik ist weder, was man tut, noch, was man sagt. Zwar entsteht Ethik durch Tun und prägt damit das Sein. Aber nicht das Tun, sondern das Selbstbild beurteilt, was man für richtig oder falsch hält. Kein Wunder, dass es in der Wahrnehmung anderer nicht allein darauf ankommt, was man sagt und tut. Ebenso entscheidend ist, wer etwas tut oder sagt. Ein Pazifist, der zum Krieg aufruft, wird anders wahrgenommen als ein General. Quelle: „Von der Plicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies