Gewaltlosigkeit sollte überall herrschen

Steht derjenige, der Gewaltlosigkeit praktiziert, in Beziehung zu demjenigen, gegen den Gewaltanwendung erwogen wird, dann scheint zwischen beiden ein vorgängiger sozialer Bezug zu stehen. Sie sind Teil voneinander, das eine Selbst ist im anderen impliziert. Judith Butler erläutert: „Gewaltlosigkeit wäre dann eine Weise, diesen Bezug anzuerkennen, so belastet er auch sein mag. Und auch die normativen Zielsetzungen zu bejahen, die sich aus diesem schon bestehenden sozialen Bezug ergeben.“ Daher kann eine Ethik der Gewaltlosigkeit nicht in Individualismus gründen. Sondern sie muss eine führende Rolle in der Kritik des Individualismus als Basis sowohl der Ethik als auch der Politik spielen. Eine Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit müssen der wechselseitigen Weise Rechnung tragen, die das Leben der Selbste miteinander verbindet. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Beziehungen reichen über menschliche Begegnungen hinaus

Deren Bezüge können ebenso destruktiv wie lebenserhaltend sein. Die Beziehungen, die binden und definieren, reichen über die dyadische Begegnung von Menschen hinaus. Und deshalb betrifft die Frage der Gewaltlosigkeit nicht nur menschliche Beziehungen, sondern sämtliche lebendigen und wechselseitig konstitutiven Beziehungen. Gewaltlosigkeit erfordert sowohl eine Kritik der egologischen Ethik wie des politischen Erbes des Individualismus, um die Idee des Selbstseins als Spannungsfeld sozialer Bezüglichkeit fassen zu können.

Diese Bezüglichkeit ist natürlich auch definiert durch Negativität, das heißt durch Konflikt, Zorn und Aggression. Mit dem destruktiven Potenzial menschlicher Beziehung wird nicht jede Bezüglichkeit geleugnet. Und die Betrachtung aus dieser Bezüglichkeit heraus kann auch die potenzielle oder faktische Zerstörung sozialer Bindungen nicht außer Acht lassen. Daher ist Bezüglichkeit nicht schon an sich gut, ein Zeichen der Verbundenheit, eine ethische Norm als Gegensatz zur Destruktion.

Man kann die Welt als Kraftfeld der Gewalt betrachten

Judith Butler stellt fest: „Vielmehr ist Bezüglichkeit ein irritierendes und ambivalentes Feld. Die Frage der ethischen Verpflichtung muss man hier im Lichte fortdauernder und konstitutiver destruktiver Potenziale klären.“ Was sich am Ende auch immer als „das Richtige tun“ erweist. Es setzt den Durchgang durch die Spaltung oder die Auseinandersetzung voraus, die von vornherein die ethische Entscheidung bedingt. Diese Aufgabe ist nie nur reflexiver Art. Das heißt, sie hängt nie nur von der eigenen Beziehung zu sich selbst ab.

Man kann die Welt als Kraftfeld der Gewalt betrachten. In einem solchen Fall muss die Gewaltlosigkeit Wege finden. Nämlich in dieser Welt so zu leben und zu handeln, dass man die Gewalt in Schach hält oder mindert. Oder dass man ihre Stoßrichtung ändert, und das in eben jenen Momenten, wo sie Welt völlig zu erfüllen und keinen Ausweg zu lassen scheint. Der Körper kann der Vektor dieser Wende sein, aber ein solcher Vektor können auch der Diskurs, kollektive Praktiken, Infrastrukturen und Institutionen sein. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler

Von Hans Klumbies