Die globale Politik ist von Gewalt bedroht

Das Philosophie Magazin hat eine neue Sonderausgabe mit dem Titel „Impulse für 2023“ veröffentlicht. Darin präsentiert es ausgesuchte Essays und Gespräche zu den großen Fragen der Gegenwart. Gegliedert ist das Heft in vier große Blöcke: Weltunordnung, die Herrschaft der Technik, Natur als Subjekt sowie Gesellschaft und Politik. Der russische Überfall auf die Ukraine ist zugleich ein Anschlag auf politische Gewissheiten. Die Überzeugung, dass Handel Frieden stiftet oder dass sich die Menschheit auf ein einziges, liberales Modell zubewegt, hat großen Schaden genommen. Es zeichnet sich im Gegenteil eine nichtwestliche Weltunordnung ab, eine gewaltsame Umwälzung der globalen Politik. Für Jürgen Habermas unterschlägt der schrille Ton in der deutschen Debatte um die Zeitenwende die Komplexität der Situation und das Risiko einer nuklearen Katastrophe.

Der Kollaps der Ökosysteme ist eine reelle Bedrohung

Laut Andreas Reckwitz erschüttert der Ukrainekrieg den liberalen Fortschrittsglauben: „Ein pessimistisches Geschichtsbild breitet sich aus und trägt der neuen, multipolaren Weltordnung Rechnung. Darin gehören Unsicherheit, Abschottung und Autoritarismus zur Normalität.“ Für Alexander Kluge ist der Krieg ein Dämon, der nicht weichen will. Er lauert, um dann hervorzuschießen. Der Krieg entfesselt und entordnet sämtliche Verhältnisse. Wenn der Krieg einmal anfängt, führt er eine eigene Existenz. Der Krieg „träumt von seiner absoluten Gewalt“, wie Carl von Clausewitz das nennt.

In der Rubrik „Die Herrschaft der Technik“ fordert die Soziobiologin Lauren Holt: „Verluste an der Natur müssen klarer eingepreist werden.“ Staatliche Bemühungen in Sachen Umweltschutz können durchaus wirkungsvoll sein. Eine anregendere Perspektive wäre aber, die Last der Sanierung klarer jenen zuzuweisen, die das System ins Ungleichgewicht bringen. Denn die Menschheit ist auf dem Weg, sich von den natürlichen Systemen abzukoppeln. Der Kollaps der Ökosysteme ist heute eine sehr reelle Bedrohung.

Der flüchtige Blick führt zu Schwarzseherei

Der Historiker David Van Reybrouck macht die Industriestaaten für den Klimawandel und das Artensterben verantwortlich. Sie sind es, die der Menschheit die Zukunft rauben: „Wir bürden künftigen Generationen uns selbst auf, mit erstaunlicher Brutalität und Gleichgültigkeit. […] Wir plündern unsere Enkelkinder aus, wir berauben unsere Kinder, wir vergiften unsere Nachkommen. Inzwischen geht alles so schnell, dass jeder die Konsequenzen selbst zu spüren bekommt. Waldbrände, Überflutungen und Wassermangel sind allgegenwärtig.

Die Schriftstellerin Rebecca Solnit macht darauf aufmerksam, dass der flüchtige Blick zu Schwarzseherei und Verzweiflung führt. Denn zu sehen, wie sich etwas wandelt, bracht seine Zeit. Aber nur wer den Wandel versteht, kann Politik und Kultur verstehen. Ereignisse haben ebenso wie Lebewesen ihre Genealogie und ihre Evolution. Diese muss man kennen, um zu wissen, was sie sind und mit wem und was sie in Verbindung stehen. Entscheidende Umbrüche vollziehen sich oftmals in der Kultur, in Überzeugungen und Werten. Und das Wichtigste dafür ist, die Fantasie der Menschen zu gewinnen.

Von Hans Klumbies