Gereiztheit ist ein Kennzeichen der Gegenwart

Strenge Sozialnormen bei unterschwelliger Gereiztheit sind ein Kennzeichen der Gegenwart. Richard David Precht ergänzt: „Und die Zahl derer, denen politische Fragen zum Ventil werden, um Druck abzulassen, ist beachtlich. Ob es sich dabei um Migration oder Corona-Maßnahmen handelt, spielt dabei fast keine Rolle. Am Ende kommt es auf den Anlass wahrscheinlich weit weniger an, als den Empörten selbst bewusst ist.“ Und ist die Covid-19-Pandemie einmal ausgestanden, findet sich gewiss schnell das nächste Ventil. Richard David Precht hat einen heißen Tipp: „Maßnahmen und Auflagen gegen die drohende Klimakatastrophe …“. Die seit der Antike sozial eingeforderte Tugend der Mäßigung kennt also eine Schattenseite. Dabei handelt es sich um das versteckte Unmaß. Dabei fragt sich allerdings: Warum ist in letzter Zeit gerade der Staat zum Zielobjekt unmäßiger Wut geworden? Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Der Staat unterstützt die Bürger nach Kräften

Nicht das sich nicht immer vieles fände, was man an der gegenwärtigen Politik, an einzelnen Politikern und Parteien kritisieren kann. Doch Hass auf den Staat und der maßlose Verdacht gegen alle Politiker, allesamt von niedrigen Instinkten getrieben zu sein und permanent zu lügen, sind dadurch nicht erklärt. Liegt die Antwort in einem Paradox? Das Leben der Menschen ist heutzutage durch eine Vielzahl von Regelungen und Auflagen eingehegt. Dafür aber nötigt der Staat seinen Bürgern im Normalfall weit weniger große Pflichten und Zumutungen ab als in allen früheren Zeiten.

Richard David Precht denkt dabei zum Beispiel an die mörderische Pflicht, in ständigen Kriegen für das Vaterland zu sterben. Stattdessen bietet der Staat seinen Bürgern heute einen Rahmen. In diesem können sie für ihre Gesundheit und das Alter vorsorgen, und der Staat unterstützt sie dabei nach Kräften. Erhöhte Sorge und Vorsorge bei gleichzeitiger Reduktion von Pflichten verändert, wie jeder aus der Kindererziehung weiß, das Beziehungsgefüge. Die Leistungen des Staates werden selbstverständlich, die Anspruchshaltung der Bürger auf freie Entfaltung höher und die Reizschwelle gegenüber empfundener Ungerechtigkeit niedriger.

Die Bürger müssen den Staat nicht mehr fürchten

Tugenden werden heute – anders als bei Cicero – mehr und mehr als Privatsache empfunden, ähnlich wie Manieren, und nicht als Verhaltensweisen im Gefüge von Staat, Gesellschaft und Bürger. Richard David Precht weiß: „Staatliche Amtsstuben, Polizisten und Lehrer umgeben keine strenge Autorität mehr, man muss sie nicht wie in Preußen oder im Dritten Reich, fürchten.“ Dass man den Staat nicht mehr fürchten muss, ist eine großartige Entwicklung.

Dennoch zeitigt diese Tatsache bei einigen bedauerliche Folgen. Man beginnt, den Staat als Dienstleister zu sehen. Und sich selbst als Kunden oder Konsumenten, der stets eines will: für sich selbst das Beste. Richard David Precht fügt hinzu: „Tut der Staat nicht das, was ich von ihm erwarte, kündige ich meinen inneren Vertrag mit ihm und entpflichte mich vom Gemeinwohl.“ Das der Staat einem überhaupt Pflichten auferlegt, wird manchem auf diese Weise geschichts- und gesellschaftsvergessen zum Skandal. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies