In der Politik wurde immer schon gelogen

Bei der Gegenwart, so kann man lesen, handelt es sich um ein postfaktisches Zeitalter. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Dem Wahrheitsfreund graut, zumal er ja, so muss man den erschütterten Kommentaren zur „post-truth politics“ entnehmen. Denn er ist in einer Zeit groß geworden, in der Wahrheit in der Politik noch eine entscheidende Kategorie war und sich die Wähler an den besseren und faktengetreuen Argumenten orientierten. Natürlich stimmt diese in die Vergangenheit projizierte Idylle nicht. In der Politik wurde immer schon gelogen und immer schon haben die Anhänger diese Politik das augenzwinkernd akklamiert. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

Faktenwissen gilt in der modernen Pädagogik für verzichtbar

Wie sagte doch Jean-Claude Juncker, der sich gerne als moralische Instanz gab: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ Ist das schon in Vergessenheit geraten? Erfreut sich eine postfaktische Attitüde gerade in progressiven Kreisen nicht seit langem großer Beliebtheit? Man erinnere sich an die Attraktivität des Konstruktivismus, der Wahrheit für die Erfindung eines Lügners hielt. Oder an die Nonchalance, mit der in Genderdebatten Verweise auf biologische Fakten ignoriert und ins rechtskonservative Eck abgeschoben werden.

Konrad Paul Liessmann weiß: „Die neue Campus-Kultur, in der es von Mikroaggressionen und „Trigger Warnings“ wimmelt, lebt doch davon, dass Fakten nichts, die Gefühle und Befindlichkeiten der Betroffenen aber alles zählen.“ Und überhaupt: Gilt „Faktenwissen“ nicht seit langem in der modernen Pädagogik und Didaktik als verzichtbar, ja als geradezu schädlich. Denn jugendliche Gehirne darf man keinesfalls mit Wissen belasten, wenn es doch um Kompetenzen und Emotionen geht.

In der Politik geht es um Machtfragen

Dass man nichts mehr wissen muss, weil die „Digital Natives“ ohnehin alles googeln können, war eine diese verheerenden reformpädagogischen Ideen, die sich nun anfangen, bitter zu rächen. Allerdings: Zwischen einer postfaktischen Politik und einer postfaktischen Wissenschaft und ihrer Didaktik gibt es gravierende Unterschiede. Konrad Paul Liessmann vermutet: „Es mag sein, dass es in Zeiten sozialer Medien und ihrer Filterblasen für Politiker leichter ist zu lügen, ohne damit Anhänger und potentielle Wähler vor den Kopf zu stoßen.“

Aber Wahlen in einer Demokratie waren noch nie Veranstaltungen zur Entscheidung von Wahrheitsansprüchen. In der Politik geht es nicht um Wahrheits-, sondern um Machtfragen. Anders als in der Wissenschaft. Für sie ist Wahrheitsfindung die regulative Leitidee. Verzichtet sie darauf, weil alles Konstruktion oder Ausdruck ungerechter Verhältnisse ist, gibt sie sich als Wissenschaft auf. Wird das Konzept wissenschaftlicher Rationalität aus ideologischen oder moralischen Gründen außer Kraft gesetzt, ist das für Konrad Paul Liessmann viel bedenklicher und auch gefährlicher als die dreisten Flunkereien des einen oder anderen Wahlwerbers. Quelle: „Lauter Lügen“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies