Das eilige Meinen richtet tagtäglich Verseuchungen an

Aus Wolfgang Hildesheimers „Mitteilungen an Max“ stammt das Zitat, das Reinhard K. Sprenger zum Titel seiner Aufsatzsammlung „Gehirnwäsche trage ich nicht“ wählte. Es verweist auf die Verseuchungen, welche die Pathosformeln und das eilige Meinen tagtäglich anrichten. Versammelt sind in seinem neuen Buch vorrangig Texte, die er in der NZZ – „Neue Zürcher Zeitung“ publizierte. Seit Angedenken übt sich der Mensch, den Zufall zu bändigen, die Fülle der Möglichkeiten zu begrenzen, seine Welt zu ordnen und festzulegen. Und je mehr ihm das gelingt, desto mehr leidet er unter dem Restrisiko. Desto mehr artikuliert sich das Bedürfnis, den Zufall möglichst vollständig aus dem Leben zu verbannen. Man will kontrollieren, alles, irgendwie, auch den eigenen Körper. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, ist einer der profiliertesten Führungsexperten Deutschlands.

Der Staat will seine Idee vom guten Leben durchsetzen

Alles soll gleichbleiben, und wenn sich etwas ändert, dann bitte nur als willkürlich herbeigeführte Perfektion. Reinhard K. Sprenger weiß: „Das lässt sich ausbeuten. Von der Politik etwa, die verspricht, den Menschen vor dem Zustoßenden zu schützen – und unter der Hand die Zufallsvorsorge zu infantilisieren.“ Und auch die Wirtschaft lässt sich nicht lumpen: Es gibt eine riesige Industrie, die nichts anderes verkauft als Angst. Und sich nach der Pathologisierung der Zukunft selbst als Therapeutikum empfiehlt.

Reinhard K. Sprenger sagt es unverblümt: Das Menschenbild das der aktuellen Politik zugrunde liegt, ist im Kern von „Verachtung“ geprägt. Der Staat respektiert kaum mehr das Wollen des Bürgers, sondern will selbst etwas. Er ruft dem Bürger zu: „Ich weiß, was für dich gut ist!“ Er hat eine Idee vom guten Leben und will sie durchsetzen. Dieser Gesellschaftsentwurf basiert also nicht auf Menschen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. Das haben sowohl christliche wie sozialistische Strömungen gemeinsam. Und ehemals auch nationalsozialistische.

Der Vergleich ähnelt einem Selbstmord

In Wohlstandsgesellschaften werden die Menschen nicht zufriedener, sondern unzufriedener. Und zwar exponentiell. Reinhard K. Sprenger erläutert: „Eine Dialektik: Je größer der allgemeine Wohlstand ist, desto relativer wird der individuelle; je besser sich alle fühlen, desto schlechter fühlt sich der Einzelne. Solange er nicht ganz oben ist.“ Warum ist das so? Weil der Mensch sich gerne mit anderen vergleicht. Der Vergleich ähnelt jedoch einem Selbstmord. Zudem ist es geradezu masochistisch, anderen Macht über das eigene Glücksempfinden zu geben.

Viele Menschen fürchten sich vor der Freiheit. Das hat sicherlich mehrere Gründe. Reinhard K. Sprenger stellt fest: „Die Menschen hätten zwar gerne Freiheiten, aber die damit verbundene Verantwortung möchten sie lieber abschieben. Im Grunde läuft es auf den Wunsch hinaus, alles tun zu können, aber den Preis nicht zahlen zu müssen.“ Der ist aber immer fällig, egal welche Entscheidung man trifft. Auch wenn man nicht entscheidet, was ja auch eine Entscheidung ist.

Gehirnwäsche trage ich nicht
Selbstbestimmt leben und arbeiten
Reinhard K. Sprenger
Verlag: Campus
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-593-51682-0, 25,00 Euro

Von Hans Klumbies