Sprache kann einem Menschen seine Identität verweigern

Sprache besitzt notwendigerweise auch die Macht, zu verletzen. „Wenn die Sprache den Körper erhalten kann, so kann sie ihn zugleich auch in seiner Existenz bedrohen“, schreibt Judith Butler in ihrem Buch „Hass spricht“, und man kann jetzt, auf der Grundlage des Gesagten, ermessen, wie tief diese Drohung Judith Butler zufolge geht: Eine sprachliche Verletzung berührt einen Menschen in seinen Grundfesten. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Denn wenn Identität in der beschriebenen Weise ein Effekt von Sprache ist, dann kann die Sprache sie logischerweise auch zerstören beziehungsweise Menschen von vornherein Identität verweigern, ihnen regelrecht die Existenzberechtigung entziehen.“ Das „N-Wort“ etwa hat jahrhundertelang dazu gedient, Menschen zu erniedrigen, sie zum Tier zu degradieren. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“.

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Die Denksucht operiert nach Art eines Diktators

Wie jede Sucht operiert auch die Denksucht nach Art eines Diktators. Rebekka Reinhard erläutert: „Sie zwingt Ihr Gehirn in eine Montur der Gleichförmigkeit und programmiert es darauf, möglichst fantasielos zu denken, alles schon vorwegzunehmen, bei allem recht haben zu müssen und vor Dauerdenken halb wahnsinnig zu werden.“ Der Stoff, der überall verfügbar ist, hat krasse Begleiterscheinungen: Egoismus. Selbstgerechtigkeit. Seelische Versteifung. Betroffene hören auf, um die Ecke zu denken, zu zweifeln, zuzuhören. Sie kleben an gleichförmigen, vorhersehbaren kognitiven Abläufen – doch die Angst ist immer noch da. Und mit ihr die Unfreiheit. Das Gehirn reduziert die vielen Möglichkeiten, sich als Mensch in einer unsicheren Welt zu behaupten und das zu tun, was man eigentlich tun will, von vornherein auf zwei Alternativen. Rebekka Reinhard ist Chefredakteurin des Magazins „human“ über Mensch und KI. Unter anderem ist sie bekannt durch den Podcast „Was sagen Sie dazu?“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg.

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Big Data begreift seine Ergebnisse nicht

Big Data stellt ein rudimentäres Wissen zur Verfügung. Es bleibt auf Korrelationen und Mustererkennungen beschränkt, in denen jedoch nichts begriffen wird. Der Begriff bildet eine Ganzheit, die ihre Momente in sich einschließt und einbegreift. Byung-Chul Han erklärt: „Die Ganzheit ist eine Schlussform. Der Begriff ist ein Schluss. Alles Vernünftige ist ein Schluss. Big Data ist additiv. Das Additive bildet keine Ganzheit, keinen Schluss. Ihm fehlt der Begriff, nämlich der Griff, der Teile zu einer Ganzheit zusammenschließt.“ Künstliche Intelligenz erreicht nie die Begriffsebene des Wissens. Sie begreift nicht die Ergebnisse, die sich berechnet. Das Rechnen unterscheidet sich vom Denken dadurch, dass es sich keine Begriffe bildet und nicht von einem Schluss zum nächsten voranschreitet. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Der Alpdruck der Vergangenheit wiegt oft schwer

Eine zentrale Frage bei Karl Marx lautet: Wie wird man mit dem Alpdruck der Vergangenheit fertig? Denn kein Mensch handelt losgebunden von der Geschichte, sondern sie lastet auf ihm, er ist hineingeworfen in eine Geschichte, die er nicht gemacht hat, mit der er aber in irgendeiner Weise zurande kommen muss. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Revolutionen hätten nach Marx auch die Aufgabe gehabt, diese Last der Vergangenheit, wenn nicht schon abzuschütteln, so doch zu minimieren und den Blick frei zu machen für das Morgen.“ Genau dazu aber wühlen die Menschen im Fundus der Vergangenheit und suchen darin nach passenden Kostümen. Die Französische Revolution verkleidet sich beispielsweise als Römische Republik. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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Jeder Mensch ist einzigartig

Die drei Begriffe Individuum, Personalität und Subjektivität gehören eng zusammen und bezeichnen – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – dasselbe. Nämlich den Menschen in seiner Einzigartigkeit, Würde seiner Erscheinung, Selbststeuerung – als Hochwerte der abendländischen Kulturgeschichte. Silvio Vietta ergänzt: „Keine andere Kultur hat dem Einzelmenschen eine solche Hochschätzung widerfahren lassen wie die abendländische. Die asiatischen und die meisten indigenen Kulturen ordnen vielmehr den Einzelmenschen dem Kollektiv unter.“ Ihm kommt dort nicht ein solcher Hochwert zu, wie in der abendländischen Kultur, und dies aus unterschiedlichen Begriffstraditionen heraus. In den drei Begriffen mischen sich bereits Elemente der rationalen Kultur mit denen der christlichen. Insbesondere der Begriff der „Persönlichkeit“ kommt aus der römischen Theatertradition, wird dann christlich-theologisch überformt und schließlich auch durch die rationale Philosophie starkgemacht. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt

Seiner Freiheit kann der Mensch nicht entrinnen. „Wir sind zu ihr verurteilt“, sagt Jean-Paul Sartre. Wenn man sie verleugnet und behauptet, dass man etwas nun einmal tun müsse oder nicht anders konnte, als dieses oder jenes zu tun, dann verleugnet man sich selbst. Ger Groot ergänzt: „Wir machen unser Handeln von etwas anderem abhängig, das uns dazu zwingt und machen uns selbst zu einem Ding.“ Nämlich zu einer Billardkugel, die willenlos fortrollt, wenn sie von einer anderen Billardkugel angestoßen wird. Diese Verleugnung der Freiheit ist unter der Würde des Menschen. Sie ist, sagt Jean-Paul Sartre: „Unaufrichtigkeit.“ Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Epiktet hat sogar die moderne Psychotherapie beeinflusst

Epiktet lebte sehr bescheiden und verschrieb sich gänzlich seiner Philosophie. Er setzte den Weg seines Vorgängers Seneca als wichtigster Vertreter der jüngeren Stoa fort. Gerhard Gleißner weiß: „Wie Seneca übernahm er die von Sokrates vorgezeichnete Technik des Hinterfragens der Ereignisse und gab seinen Schülern dafür konkrete und einprägsame Beispiele an die Hand.“ Teilweise ergänzte er dabei Seneca, brachte aber andererseits sehr viele neue Aspekte mit ein. So formulierte er das wahrscheinlich bedeutendste stoische Prinzip, das die moderne Psychotherapie am stärksten beeinflusst hat und damit auch die größte Auswirkung auf unsere seelische und körperliche Gesundheit hat. Gerhard Gleißner bezeichnet diese Methode mit seinen eigenen Worten als „Vorstellungs- und Machtprüfung“. Dr. med. Gerhard Gleißner ist seit 2014 als Amtsarzt und Gutachter im öffentlichen Gesundheitsdienst tätig.

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Die Ausbeutung im Kapitalismus ist gnadenlos

Die 32. Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist Karl Marx gewidmet. Das Heft ist durch vier Fragen gegliedert: Was bewegt die Geschichte? Was ist falsch am Kapitalismus? Was heißt hier Klassenkampf? Was kommt nach dem Kapitalismus? Im Gespräch sagt der Autor Uwe Wittstock über Karl Marx: „In seinem ökonomischen Denken und in seiner Geschichtstheorie hat Marx diesen nun nicht mehr jenseitigen, sondern diesseitigen Sinn gefunden. Innerhalb dieser Theorie stand für ihn fest, dass ein menschenwürdiges Leben erst jenseits des Kapitalismus möglich sein würde. Der Kapitalismus zielt für Marx auf die gnadenlose Ausbeutung von allem und jedem.“ Als Philosoph, Ökonom, Journalist und Aktivist suchte Karl Marx die Gesellschaft zu verstehen und zu verändern. Immer wieder gerät er dabei in Konflikte. Sein Lebenslauf ist geprägt von den politischen Umbrüchen seiner Zeit, sein Denken inspiriert von ihren Großereignissen.

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Die Menschheit hat sich von den Zwängen der Natur befreit

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Befreiung von den Zwängen der Natur. Philipp Hübl erläutert: „Die frühen Menschen haben das Feuer zu beherrschen gelernt und sich mit Licht und Wärme von den Zwängen des Tagesrhythmus und des Jahreswechsels befreit.“ Sie haben Ackerbau betrieben und Vorräte angelegt, um von den Nahrungsquellen ihrer Umgebung unabhängig zu sein. Mit Wagen und Schiffen wurden sie unabhängig von ihrer Herkunft, mit Kleidung, Häusern und Staudämmen trotzten sie den Widrigkeiten der Witterungen. Durch die Medizin sind Menschen Infektionen nicht mehr hilflos ausgeliefert und durch die Telekommunikation nicht mehr an einen Ort gebunden, um sich auszutauschen. Moderne Wohnungen sind selbstgebaute Oasen, in denen Wärme, Licht, fließendes Wasser, eine weiche Schlafstätte, Nahrung, Musik und Unterhaltung sichergestellt sind. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Die Philosophie des 18. Jahrhunderts ergründet die Empathie

Im Jahr 2017 berichteten im sozialen Netzwerk Twitter von Erfahrungen sexualisierter Gewalt. Svenja Flaßpöhler berichtet: „Frauen wie Männer auf der ganzen Welt fühlten mit den Opfern, solidarisierten sich im Netz und empörten sich über die Täter.“ Die empathische Kraft von Millionen von Menschen rund um den Globus führte zur Entmachtung und Verhaftung von Tätern. Man klagte Verdächtige öffentlich an und verschärfte das Sexualstrafrecht in Deutschland. Geschützt ist eine Frau jetzt auch dann, wenn sie zur Äußerung ihres Willens – etwa durch Drogen – gar nicht in der Lage ist. Doch was genau ist das für ein Gefühl: die Empathie? Wie kommt es, dass Menschen überhaupt mit fremden Schicksalen mitfühlen können? Die Philosophie des 18. Jahrhunderts war tief geprägt von diesen Fragen. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“.

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Biographien schaffen die persönliche Identität

Biographien sind keine Umsetzungen eines Plans, sondern sie sind voller Überraschungen. Barbara Schmitz stellt fest: „Geschichten unseres Lebens geben uns Zusammenhalt, Kohärenz, sie schaffen unsere Identität und geben uns eine Art von angeeignetem Sinn.“ Menschen, die eine schwere Krankheit haben, oder solche, die mit einer Behinderung leben, erzählen oft davon, dass ihnen gerade die Krankheit oder Behinderung die Augen geöffnet und ihr Leben dann eine Wendung zum Guten genommen habe. Das narrative Modell kann diese Äußerung gut erklären und verständlich machen. Dabei muss nicht geleugnet werden, dass ein Krankheit oder Behinderung mit vielen schweren Erfahrungen einhergeht, dass sie Schmerzen, Trauer, Verlust, Angst beinhaltet. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

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Die Geschichte läuft nicht auf ein Happy End zu

In all seinen Schriften zeigte sich Theodor W. Adorno skeptisch gegenüber Philosophien, die harmonische Versöhnung anbieten. Stuart Jeffries erklärt: „So bezweifelte er beispielsweise die Vision des jungen Lukács von einer epischen Ganzheit im antiken Griechenland, Heideggers Vorstellung eines vollendeten Seins, das mittlerweile tragisch in Vergessenheit geraten ist, und Benjamins Glauben an eine vor dem Sündenfall existierende Einheit von Name und Sache.“ In der „Negativen Dialektik“ geht es ihm allerdings nicht hauptsächlich um die Dekonstruktion solcher regressiven Phantasien, sondern um Widerspruch gegen die Vorstellung, dass dialektische historische Prozesse unbedingt ein Ziel haben müssen. Vor allem verwirft er die Idee, dass das geschichtliche Narrativ notwendigerweise auf ein Happy End zulaufe. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

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Die Freiheit erschafft die Welt und ist unberechenbar

Wie kein anderer Philosoph vor ihm und nach ihm erst wieder Hannah Arendt hat Jean-Jacques Rousseau das Anfangenkönnen als die schlechthin belebende Kraft der Freiheit verstanden. Rüdiger Safranski erklärt: „Das ruhige Daseinsgefühl empfängt die Welt, die Freiheit aber erschafft sie. Freiheit bedeutet handeln und das Sein wachsen lassen, im Guten wie im Bösen. Durch Freiheit gewinnt man ein Selbstsein, das nicht in sich verschlossen bleibt, sondern aus sich herauskommt.“ Freiheit ist das schlechthin Überraschende. Freiheit macht es sogar möglich, sich selbst zu überraschen. Freiheit ist unberechenbar. Weil nun Jean-Jacques Rousseau so intim vertraut war mit der inneren Unabsehbarkeit und Unbestimmtheit der inneren Freiheit, konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass es draußen die vielen Freiheiten der Anderen gibt und dass sich deshalb dort ungeheure Unbestimmtheiten auftun. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Menschen sollten sich dem Ringen mit dem Unvermögen widmen

Ina Schmidt schreibt: „Erneut also erleben wir das, was uns als menschlich auszeichnet, weniger in dem, was wir im Streben nach dem Guten erreichen oder worin wir unser Vermögen unter Beweis stellen können, sondern darin, dass wir uns gerade dem menschlichen Ringen mit dem Nichtkönnen, dem Unvermögen widmen.“ Hierin liegt ein starker Gegenentwurf zu dem, was sich als autonomes Subjekt verantwortlichen Handeln etabliert hat. Menschen werden in dem Versuch einer Antwort zu einem autonomen Subjekt, der sich aber nicht dadurch auszeichnet alles zu können, sondern dadurch, in seiner Unvollkommenheit den Versuch zu wagen. Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte 2004 und gründete 2005 die „denkraeume“. Seitdem bietet sie Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an.

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Ängste lassen sich in Freiheit verwandeln

Das neue Philosophie Magazin 03/2025 erforscht in seinem Titelthema das mächtige Gefühl der Angst. Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt: „Wer sich ängstigt, merkt, wie die Optionen schwinden. Handlungsmacht geht in Ohnmacht über. Viele Menschen werden ohne realen Anlass von extremer Angst übermannt.“ In Deutschland sind circa 10 bis 14 Prozent von einer Angststörung betroffen. In der existenziellen Philosophie indes hat die Angst eine andere Funktion. Sie ist keine Enge, sondern ein Schwindel, der einen Menschen angesichts seiner Freiheit erfasst. Existenziell ist der Mensch, weil nur er selbst seinem Dasein eine Sinn geben kann. Nichts und niemand kann ihm diese Last abnehmen. Wie große eine Bedrohung auch sein mag: Jeder Mensch hat immer die Freiheit, seine Angst zu überwinden, sich nicht durch sie bestimmen zu lassen. Das neue Philosophie Magazin zeigt daher Wege auf, Angst in Freiheit zu verwandeln.

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Das Urteil eines anderen kann in der Seele brennen

Ger Groot erklärt: „Was er über mich denkt, entzieht sich meinem Zugriff, ich bin dem anderen darin ausgeliefert – mir buchstäblich entfremdet und entwendet.“ Wie tief dies das eigene Selbstverständnis berühren kann, weiß Jean-Paul Sartre. Das Urteil eines anderen kann in der Seele brennen. Jean-Paul Sartre schreibt: „Das Wesen der Beziehungen zwischen Bewusstsein ist nicht das Mitsein, sondern der Konflikt.“ Aus diesem Grund kann er am Anfang von „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ den Atheismus als Bedingung seiner Existenzphilosophie bezeichnen. Denn Gott ist schließlich der andere schlechthin, der den Menschen immerzu sieht, aber sich selbst niemals sehen, daher auch nicht zum Objekt machen lässt. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Gerhard Gleißner stellt die Epochen der Stoa vor

Die ältere Stoa war noch stark von antiken Idealen und vom Kynismus beseelt. Dadurch wirkte sie sittenstreng, wenn sie Bedürfnislosigkeit und Verzicht forderte. Um circa 180 – 150 vor Christus begann die Zeit der mittleren Stoa. Mit dem Schulleiter Panaitios von Rhodos (180 – 110 vor Christus) verlagerte sich der Standort der Philosophie von Griechenland nach Rom und beeinflusste dort die führende Bürgerschicht maßgeblich. Gerhard Gleißner kennt den Grund: „Panaitios lockerte die strengen Regeln der Älteren. Dadurch vergrößerte sich der Anhängerkreis deutlich. Es war nun auch für Stoiker möglich, Gefühle zu zeigen und maßvoll Vermögen und Besitz zu haben.“ Die jüngere Stoa von 50 vor Christus bis 100 nach Christus bildet schließlich den Kern der Lehre, auf den man sich heute meistens bezieht, wenn man vom Stoizismus spricht. Dr. med. Gerhard Gleißner ist seit 2014 als Amtsarzt und Gutachter im öffentlichen Gesundheitsdienst tätig.

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Die soziale Imagination enthält allerlei Stereotype

Die soziale Vorstellungskraft ist eine wichtige Triebfeder gesellschaftlicher Veränderungen, was vor allem daran liegt, dass sie das Denken unmittelbar beeinflussen kann, und zwar unabhängig von Überzeugungen, die möglicherweise von aktuellen Vorurteilen geprägt sind. Miranda Fricker ergänzt: „Wenn aber die Bilder vorurteilsbeladen sind, kann eben diese Fähigkeit – die Fähigkeit, das Urteilsvermögen direkt und ohne, dass sich das Subjekt dessen bewusst ist, zu beeinflussen – aus der sozialen Imagination eine ethische und epistemische Bürde werden lassen.“ Die kollektive soziale Imagination enthält unweigerlich allerlei Stereotype, und das ist das soziale Klima, in dem die Zuhörer ihren Gesprächspartnern gegenübertreten. Kein Wunder also, dass mitunter die vorurteilsbehafteten Aspekte der sozialen Vorstellungskraft die eigenen Glaubwürdigkeitsurteile beeinflussen, ohne dass man dem zustimmt. Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute für Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield.

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Das Selbst existiert nur in sozialen Verhältnissen

Zuerst sind Menschen Wesen mit einem bestimmten Körper, „etwas zum Leben“, wie von Samuel Beckett gesagt worden ist. Oder sollte Michael Hampe sagen: „Wir sind in einen lebendigen Körper geraten. Aber wer könnte es sein, der da in den Körper gerät?“ Soll man ein Individuum, ein Selbst annehmen, das „vor“ dem Körper, „vor“ den sozialen Verhältnissen existierte? Michael Hampe wüsste nicht, wie eine solche Annahme gestützt werden könnte. Denn alles Reden von „vor“ und „nach“ und von „existieren“ und „nicht existieren“ setzt ja schon irgendeine Sprache mit ihren Unterscheidungen voraus. Und die Sprache haben Menschen nur in dieser Gemeinschaft der Redenden mit den anderen, in die man nur eintreten kann, weil man einen Körper hat wie die anderen auch, einen anderen Körper zwar, aber doch einen ähnlichen. Michael Hampe ist seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich.

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Die eine Wahrheit gibt es nicht

Richard Rorty weist einen Gedanken zurück, nämlich den Gedanken der Annäherung an die eine Wahrheit. Anstatt geltend zu machen, dass die Realität eine und die Wahrheit Übereinstimmung mit dieser Realität ist, behaupten die Anhänger von Charles Sanders Peirce, dass die Idee der Annäherung in die Voraussetzungen des Diskurses eingebaut sind. Sie alle sind einhellig der Meinung, dass der Hauptgrund, weshalb die Vernunft nicht naturalisiert werden kann, darin liegt, dass die Vernunft normativ ist und Normen nicht naturalisiert werden können. Allerdings kann man, wie sie sagen, dem Normativen Platz schaffen, ohne zu der herkömmlichen Vorstellung von einer Pflicht zurückzukehren, die dem intrinsischen Wesen der einen Realität entsprechen soll. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.

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Neugier und Offenheit charakterisieren einen gebildeten Menschen

In einer Wissensgesellschaft, in der das eigene Wissen für Bildung gehalten und absolut gesetzt wird, ist die Unbildung der einzige Weg zur Bildung. Anders Indset erklärt: „Wenn wir Wissen mit Bildung gleichsetzen, kommen wir nicht darum herum, alle in uns den Ungebildeten zu aktivieren. Die Geistes- und Werthaltung des Ungebildeten zeichnet den Gebildeten in der heutigen Wissensgesellschaft aus.“ Das Bedürfnis zu wachsen, der kritische Umgang mit dem Bestehenden und die Neugier und Offenheit für das Andere sind die Attribute, die einen gebildeten Menschen charakterisieren. Doch diese Attribute haben in der Wissensgesellschaft, in der das eigene Wissen absolut gesetzt wird, an Bedeutung verloren. Das Wissen zu fetischisieren, kennzeichnet Theodor W. Adorno, einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie – auch unter Frankfurter Schule bekannt – den sogenannten halbgebildeten Menschen. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.

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Die Anhänger politischer Korrektheit verleugnen das Wirken soziale Zwänge

Auch heute ist die Freiheit des Einzelnen innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges zentral. Pauline Voss erklärt: „Die Anhänger der politischen Korrektheit beharren darauf, dass sie deren Regeln freiwillig befolgten, dass es ihnen sogar eine Freude sei, durch eine inklusive Sprache und rücksichtsvolles Verhalten Diskriminierung zu verringern.“ Die Mechanismen der Cancel Culture empfinden sie als normale und keineswegs repressive Vorgänge innerhalb kontroverser Debatten. Beschwerden über einen verengten öffentlichen „Meinungskorridor“, der definiere, was gesagt werden dürfe und worüber geschwiegen werden müsse, haten sie für übertrieben. Schließlich herrsche im Westen Meinungsfreiheit: Kein Gesetz verpflichtet zu einer politisch korrekten Haltung oder Sprache. Diese Argumentation erstaunt: Ausrechnet jene, die durch die Dekonstruktion der Diskurse die Verhältnisse verändern wollen, die also das Durchbrechen sozialer Zwänge als ultimatives Machtinstrument propagieren, verleugnen – wenn ihr eigenes Verhalten hinterfragt wird – das Wirken sozialer Zwänge. Pauline Voss ist seit 2023 als freie Journalistin tätig.

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Glück ist nicht das Wichtigste

Das Glück beherrscht zurzeit das Denken vieler Menschen: Bin ich glücklich? Wie kann ich glücklich werden? Warum alle anderen, nur ich nicht? Wilhelm Schmid stellt fest: „Auf die Fragen nicht zu antworten erscheint unmöglich, zumal viele glauben, ohne Glück nicht mehr leben zu können. Es ist eine regelrechte Glückshysterie entstanden, mit der viele sich womöglich noch unglücklicher machen.“ Was aber ist das Glück? Zuallererst ist es, wie so vieles, nichts als ein Wort. Ganz Verschiedenes kann damit gemeint sein, es gibt keine verbindliche, einheitliche Definition. Was darunter zu verstehen ist, legt letztlich das jeweilige Individuum selbst fest. Die Philosophie kann lediglich Hilfestellung bieten, die etwa in einer Auseinanderlegung des Begriffs besteht, fern davon, eine bestimmte Bedeutung zu einzig möglichen zu erklären. Prof. Dr. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrte bis 2018 Philosophie an der Universität Erfurt.

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Das Zuhause beeinflusst das ganze Sein

Ein Leben, das versucht, den städtischen Raum unmittelbar zu bewohnen, ist zum Scheitern verurteilt. Denn der einzige wahre Stadtbewohner ist der Obdachlose. Er führt jedoch ein ungeschütztes, verletzliches Leben, das ihn tödlichen Gefahren aussetzt. Allen Übrigen erschließt sich die Stadt jedoch nur durch ein wie auch immer geartetes Zuhause. Emanuele Coccia hat Teile seines Lebens in Paris, Berlin, Tokio und New York verbraucht. Aber bewohnen konnte er diese Städte immer nur mit Hilfe von Schlafzimmern und Küchen, Stühlen, Schreibtischen, Schränken, Badewannen und Heizkörpern. Wohnen ist für Emanuele Coccia allerdings weit mehr als ein zu lösendes Raumproblem. Denn es bedeutet nicht, von etwas umgeben zu sein oder einen bestimmten Teil des auf der Erde verfügbaren Raumes zu okkupieren. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Der Mensch der Zukunft ist ein Spieler

Der an den Dingen interessierte Mensch der Zukunft ist kein Arbeiter, sondern ein Spieler. Byung-Chul Han erklärt: „Er braucht die Widerstände der materiellen Wirklichkeit nicht mühsam durch Arbeit überwinden. Die von ihm programmierten Apparate übernehmen die Arbeit.“ Die künftigen Menschen sind handlos. Er behandelt keine Dinge mehr, und darum kann man bei ihm nicht mehr von Handlungen sprechen. Die Hand ist das Organ der Arbeit und Handlung. Der Finger hingegen ist das Organ der Wahl. Der handlose Mensch der Zukunft macht nur von seinen Fingern Gebrauch. Er wählt, statt zu handeln. Er drückt auf Tasten, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Sein Leben ist kein Drama, das ihm Handlungen aufnötigt, sondern ein Spiel. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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