Jaron Lanier sagt: „Der Umstand, dass etwas unscharf und ungenau ist, bedeutet nicht, dass es nicht real ist.“ Nie hat der Mensch so sehr an der Realität gezweifelt wie heute. Nie war er derart besessen von ihr. Zu viele unterschiedliche Versionen von Realität machen die Eindeutigkeit kaputt. Weil sie kreuz und quer zueinander liegen, sich wie Ringkämpfe umeinanderwinden. Wie soll man sich hier noch auskennen? Rebekka Reinhard erläutert: „Die Lösung, welche die Null-und-Eins-Logik anzubieten hat, besteht hier darin, einfach immer mehr Wirklichkeiten zu generieren. Realitäten, von denen jede eindeutiger sein möchte als die andere.“ Jede hat ihre Pressesprecher, Bloggerinnen, Twitterer, weil sie „die“ Realität sein will. Jede besteht aus Fakten, und zu jedem Fakt gibt es mindestens eine Alternative. Die Philosophin Rebekka Reinhard war bis zur Einstellung der Zeitschrift stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.
Die Computer-Logik gaukelt die reine Vernunft vor
Die Welt ist ein Quiz: Wer hat was wann gesagt? Was ist real, was stimmt „wirklich“? Wer die Wahl hat, muss sich entscheiden. In der global vernetzten Welt werden sekündlich Wahlen, Konferenzen und Kriege live übertragen. Wo diese immer nur einen Klick entfernt sind, ist es schwer zu sagen, welche Realität die wahre ist. Viel leichter fällt es zu beurteilen, welche sich echt anfühlt. Über das „Echt-Feeling“ entscheidet das Wir-Rudel, die Gruppe, die Blase, in der man sich aufhält.
Entweder – oder. Da ist sie wieder, die starre Binarität. Null oder Eins, Problem oder Lösung, Erfolg oder Scheitern, echt oder Fake. Rebekka Reinhard weiß: „Die Computer-Logik gaukelt die reine Vernunft vor. Dabei trieft sie vor Irrationalität.“ Der größte Realitätsschock ist die Erkenntnis, dass das, was man gedacht, gesagt, gelebt hat, ein Fake war. Weil man nie richtig existiert hat. Weil man über sich hat entscheiden lassen. Der zweitgrößte Schock könnte in der Einsicht bestehen, dass die sogenannte Authentizität kaum noch zu kriegen ist.
Die Computer-Logik will keine Mehrdeutigkeiten
Rebekka Reinhard stellt fest: „Rechtlich und historisch gesehen, war ein authentisches kulturelles Erzeugnis einst einerseits ein originalgetreues Werk von nachvollziehbarer Herkunft. Also kein Fake, kein Plagiat, keine Kopie, keine Unwahrheit.“ Als authentisch galt andererseits ein originelles Werk. Die erste Definition bezog sich auf andere Originale, die zweite auf ein Werk in seiner Einzigartigkeit. In Zeiten von Fake Accounts und Fake People wird die Authentizität von Quellen, Informationen, Werken und Menschen gleichermaßen hochgeschätzt.
Allerdings hat die Reichweite des Wortes „authentisch“ ordentlich zugelegt. Es erfasst nun nicht mehr nur das Originalgetreue und Originelle, sondern auch die erfolgreiche Inszenierung des Echten. Die Computer-Logik ist dabei ein primitives, auf Eindeutigkeit gepoltes Programm, unfähig die Mehrdeutigkeiten zu erkennen, die heute dem Authentischen innewohnen. Computer-Logik will keine Mehrdeutigkeiten. Sie will das von Fakes unkontaminierte, reine Echte. Sie behauptet, sie könne dieses Echte produzieren und darüber verfügen, ohne es erst einer umständlichen objektiven Prüfung unterziehen zu müssen. Quelle: „Wach denken“ von Rebekka Reinhard
Von Hans Klumbies