Freiwillige Einsamkeit ist schwer zu finden

Der Rückzug in die Einsamkeit dient meistens nur einer vorübergehenden Entlastung von der Gesellschaft und ist im Übrigen seinerseits gesellschaftlich organisiert und moralisch aufgeladen. Markus Gabriel erläutert: „Man denke nur an all die komplexen Erwartungen an einen Urlaub, in den man sich zurückzieht, um die Seele frei von sozialen Belastungen baumeln zu lassen.“ Immer wird irgendjemand andere stören, indem er in der Sauna spricht, die Tür knallt oder Handtücher wegräumt. Das stört die Erwartung, dass ein Urlaub perfekt sein muss. Es hilft auch nichts, sich in ein buddhistisches Kloster zurückzuziehen, um dort zu schweigen. Denn dort ist das Schweigen wiederum ritualisiert und von sozialen Regeln bestimmt. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Der Mensch ist unter den allermeisten Umständen friedlich

Von der Gesellschaft und ihren immer auch moralischen Ansprüchen kann man sich nur partiell entlasten. Sobald eine Mehrzahl von Menschen zum selben sozialen System gehört, beginnen sie, sich gegenseitig zu beobachten. Die zeichnen dabei ein internes Bild der Gesamtlage, um Vorhersagen des Verhaltens der anderen zu entwickeln. An diesen Vorhersagen orientieren sie sich dann. Markus Gabriel erklärt: „Als Menschentiere wittern wir Gefahren und achten darauf, ob irgendetwas am Verhalten der anderen auf Bedrohung abzielt.“

Umgekehrt achtet man ebenso darauf, ob es Aussichten freundschaftlicher Begegnung gibt oder immerhin die Aufrechterhaltung einer neutralen Atmosphäre gelingt. Der Mensch ist unter den allermeisten Umständen friedlich, droht aber meistens implizit mit möglicher Gewalt. Deshalb halten sich alle von allen anderen fern und sorgen mit Höflichkeit dafür, dass es keinem auffällt, dass man auch übereinander herfallen könnte. Menschliche Vergesellschaftung verläuft dabei über Blicke, Gesten und Körperkontakt bzw. dessen Vermeidung, aber auch durch Sprache.

Nicht alle Normen sind moralisch

Markus Gabriel weiß: „Sobald irgendein soziales System besteht, können die Beteiligten seine moralische Aufladung empfinden.“ Man spürt Normativität, die aufeinander abgestimmten Erwartungshaltungen. Anhand derer erkennt man, dass man einiges tut und anderes unterlassen soll. Es gibt keine moralische Einsicht ohne das Einfühlen in andere und die Erwartungshaltungen, die eine gemeinsame, geteilte Situation prägen. Im Allgemeinen ist Normativität nichts weiter als dieser Umstand.

Eine Norm ist eine spezifische Vorschrift, die Verhaltensmuster in Kategorien dessen, was man tun, und dessen, was man nicht tun soll, einteilt. Markus Gabriel stellt fest: „Nicht alle Normen sind moralisch, und nicht alle Normen bestehen objektiv. Die Normen der deutschen Rechtschreibung kann man verletzen, ohne einen moralischen Fehler zu begehen.“ Wer eine Schachfigur gegen die Regeln bewegt, verstößt gegen die Schachregeln, was ebenfalls noch lange kein moralischer Fehler ist. Quelle: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies