Die Sprechweise wirkt sich auf die Wahrnehmung der Zuhörer aus

Im Allgemeinen treten vorurteilsbedingte Fehlfunktionen in einer Praxis der Bezeugung auf zweierlei Weise auf. Miranda Fricker erklärt: „Entweder führt das Vorurteil dazu, dass die Sprecherin für glaubwürdiger gehalten wird, als es normalerweise der Fall wäre – es gibt also einen Glaubwürdigkeitsüberschuss. Oder aber sie wird als weniger glaubwürdig wahrgenommen als sonst – dann liegt ein Glaubwürdigkeitsdefizit vor.“ Man denke nur daran, welch unmittelbare Auswirkung ein Akzent oder die Sprechweise einer Sprecherin auf ein Gespräch hat. Eine bestimmte Sprechweise birgt nicht nur eine soziale Komponente, die sich darauf auswirkt, wie ein Zuhörer die Sprecherin wahrnimmt, sondern hat auch sehr oft eine epistemische Komponente. Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute für Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield.

Durch Vorurteile entgeht Wissenswertes

Die Sprechweise kann erheblichen Einfluss darauf haben, wie viel Glaubwürdigkeit ein Hörer einer Sprecherin zugesteht. Insbesondere dann, wenn es sich um einen einmaligen Austausch handelt. Damit will Miranda Fricker nicht sagen, dass der Akzent einer Sprecherin einen Zuhörer, selbst wenn dieser sehr voreingenommen ist, automatisch dazu veranlasst, eine offensichtlich glaubwürdige Behauptung rundheraus abzulehnen oder umgekehrt einer ansonsten unglaubwürdigen Behauptung Glauben zu schenken.

Zweifellos ist so etwas möglich. Aber da es meist im Interesse der Zuhörer ist zu glauben, was wahr ist, und nicht zu glauben, was falsch ist, müsste es sich schon um eine starke Voreingenommenheit in einem ungewöhnlichen Szenario handeln, die für sich genommen die Kraft hätte, eine solche Wirkung zu erzielen. Miranda Fricker stellt fest: „Es geht vielmehr darum, dass Vorurteile die Glaubwürdigkeit der Sprecherin unbemerkt steigern oder schmälern. Und manchmal reicht dies aus, dass die Schwelle zum Glauben oder zur Akzeptanz nicht überschritten wird, sodass dem Zuhörer aufgrund seiner Voreingenommenheit etwas Wissenswertes entgeht.“

Im direkten Gespräch existiert eine gewisse Glaubwürdigkeit

Miranda Fricker weiß: „Im direkten Gespräch muss der Zuhörer der Sprecherin eine gewissen Glaubwürdigkeit zugestehen. Für solche Zuschreibungen gibt es keine exakte wissenschaftliche Grundlage, doch kann es offensichtlich zu Irrtümern im Sinne eines Überschusses oder eines Defizits kommen.“ Im Großen und Ganzen ist ein Überschuss eher vorteilhaft und ein Defizit eher von Nachteil. Allerdings ist einschränkend anzumerken, dass in einzelnen Situationen ein Überschuss einen Nachteil und ein Defizit einen Vorteil mit sich bringen kann.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich sowohl bei einem Glaubwürdigkeitsdefizit als auch bei einem Glaubwürdigkeitsüberschuss um Fälle von Zeugnisungerechtigkeit handelt. Gewiss gibt es das Gefühl von „Ungerechtigkeit“, das sich natürlicherweise und zu Recht regt, etwa wenn eine Person eine übermäßig hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen wird, nur weil ihr eine bestimmte Sprechweise zu eigen ist. Man könnte dies als Ungerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit auffassen. Quelle: „Epistemische Ungerechtigkeit“ von Miranda Fricker

Von Hans Klumbies