Drei Revolutionen prägten das Werk Immanuel Kants

Bei dem Wort „Revolution“ denken viele Leute heute zumeist an einen politischen Umsturz. Aber seinen ersten großen Auftritt in der europäischen Geistesgeschichte hatte es in der Astronomie. „De revolutionibus orbium coelestium“ – sprich „Über die Umwälzungen der Himmelsphären“ – so lautet der Titel des seinerseits revolutionären Buches, in dem Nikolaus Kopernikus 1543 sein heliozentrisches Weltbild darlegte. Marcus Willaschek erklärt: „Nicht die Sonne dreht sich um die Erde, wie der Augenschein es nahelegt und die Bibel behauptet, sondern die Erde und die anderen Planeten drehen sich um die Sonne.“ An die kopernikanische Bedeutung des Wortes „Revolution“ als „Umwälzung“ oder „Umdrehung“ knüpft Immanuel Kant an, der 1755 selbst eine bedeutenden, wenn auch lange vergessenen Beitrag zur modernen Astronomie leistet. Marcus Willaschek ist ein international führender Kant-Experte und Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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Kafkas Werk hat der philosophischen Nachwelt einen Schatz hinterlassen

Der Titel der Sonderausgabe Nr. 29 des Philosophie Magazins lautet: „Der unendliche Kafka“. Jana Glaese, Chefredakteurin der Sonderausgabe, schreibt: „Kafkas Werk hat der philosophischen Nachwelt einen Schatz hinterlassen. Von Walter Benjamin und Theodor Adorno über Hannah Arendt und Albert Camus bis hin zu Giorgio Agamben, Gilles Deleuze und Judith Butler ist Kafka eine zentrale Referenz der Philosophie.“ Der Philosophie in ihrer akademischen und systematischen Gestalt misstraut Franz Kafka. Doch mit Begeisterung liest er jene Denker, in deren Texten und Biografien er seine eigenen existenziellen Fragen erkennt. Søren Kierkegaard (1813 – 1855) war der Philosoph, den Kafka wohl am intensivsten gelesen hat. Die biografischen Ähnlichkeiten der beiden sind augenfällig: Es verbindet sie eine Neigung zu Schuldgefühlen und zum Grübeln, vor allem aber das problematische Verhältnis zur Eheschließung.

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Vertrauen und Sich-verlassen-auf unterscheiden sich

Ist es sinnvoll, zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf zu unterscheiden? Martin Hartmann antwortet: „Die Philosophie macht hier oft einen Unterschied, im Englischen vor allem anhand der Begriffe „trust“ und „reliance“. Meine Antwort lautet: Ja, aber …“ Klar ist, dass die meisten Menschen im Alltag den Vertrauensbegriff breit verwenden. Sie unterscheiden nicht unbedingt zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Oft können sie ohne Unterschied sagen, dass sie sich auf jemanden verlassen oder ihm vertrauen. Die Philosophie dagegen unterscheidet oft ganz klar zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Jedoch ist nicht immer deutlich, was aus diesem Unterschied praktisch folgt oder ob ihm echte Unterschiede in den Einstellungen der Menschen entsprechen. Bekannt ist, dass Immanuel Kant sehr regelmäßig um 19 Uhr sein Haus verließ und einen Spaziergang machte. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

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Das Smartphone verleiht ein Gefühl der Freiheit

Zu Beginn seiner Laufbahn umgab sich das Telefon mit der Aura einer schicksalhaften Macht. Sein Dröhnen war ein Befehl, dem man sich ergab. Medium ist Botschaft. Das Handy, dass die meisten Menschen heute mit sich herumtragen, besitzt nicht die Schwere des Schicksals. Es ist handlich und leicht. Byung-Chul Han fügt hinzu: „Wir haben es im wörtlichen Sinne im Griff. Das Schicksal ist jene fremde Macht, die uns immobilisiert. Auch die Botschaft als Stimme des Schicksals gewährt uns wenig Freiraum. Schon die Mobilität des Smartphones gibt uns ein Gefühl der Freiheit.“ Sein Läuten erschreckt niemand. Nichts am Mobiltelefon zwingt einen Menschen zur hilflosen Passivität. Niemand ist der Stimme des Anderen ausgeliefert. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Das Universum scheint ziemlich sinnlos zu sein

Der Physiknobelpreisträger Steven Weinberg schrieb: „Desto besser wir das Universum zu verstehen scheinen, desto sinnloser erscheint es auch.“ Gemeint ist damit vor allem, dass man immer mehr Phänomene rein physikalisch erklären kann. Christian Uhle ergänzt: „Verborgene Zwecke haben ausgedient. Vielen Menschen erscheint das heute völlig normal.“ Die Astronomin Margaret Geller fasst dies nüchtern zusammen: „Das Universum ist schlicht und einfach ein physikalisches System, wo soll da der Sinn liegen?“ So eine Aussage wäre von Galileo Galilei völlig undenkbar gewesen. Wenn der ganze Kosmos, die ganze Natur, jedes Blatt und jede Laus von Gott kommen, dann hat auch alles etwas zu bedeuten, deutet auf ihn hin, ist Ausdruck seines Willens. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Die Lüste unterliegen dem Regime der Gesundheit

Der letzte Mensch hält sich für klug, er „weiß alles“. Ganz ohne Smartphone vermutete Friedrich Nietzsche, dass die Demokratisierung des Wissens, eine Hybris zur Folge haben wird. Diese verwechselt die Möglichkeit des Zugriffs auf Informationen mit jener Erkenntnis, die sich ihrer Begrenztheit und Vorläufigkeit stets bewusst ist. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Das Leben des letzten Menschen wird dominiert von den Aspekten des Angenehmen, Nützlichen, Mittelmäßigen.“ Die Lüste selbst unterliegen seit geraumer Zeit dem Regime der Gesundheit. Das trifft das Rauchen ebenso wie den Sex, das Essen ebenso wie das Trinken. Und es trifft auch die rar gewordenen geistigen Genüsse. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Freiwillige Einsamkeit ist schwer zu finden

Der Rückzug in die Einsamkeit dient meistens nur einer vorübergehenden Entlastung von der Gesellschaft und ist im Übrigen seinerseits gesellschaftlich organisiert und moralisch aufgeladen. Markus Gabriel erläutert: „Man denke nur an all die komplexen Erwartungen an einen Urlaub, in den man sich zurückzieht, um die Seele frei von sozialen Belastungen baumeln zu lassen.“ Immer wird irgendjemand andere stören, indem er in der Sauna spricht, die Tür knallt oder Handtücher wegräumt. Das stört die Erwartung, dass ein Urlaub perfekt sein muss. Es hilft auch nichts, sich in ein buddhistisches Kloster zurückzuziehen, um dort zu schweigen. Denn dort ist das Schweigen wiederum ritualisiert und von sozialen Regeln bestimmt. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die Götter sind menschlichen Ursprungs

Im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. findet die Demokratie in Griechenland erstmals Erwähnung. Unter den vorsokratischen Denkern ist Xenophanes von Kolophon der erste, dem man die Einsicht in den menschlichen Ursprung der Götter zuschreibt. „Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus“, ist ein pointierter Spruch, mit dem Xenophanes in das Gedächtnis der Menschheit eingegangen ist. Volker Gerhard ergänzt: „In anderen Bemerkungen des Denkers kommen die Menschen als begrifflich aktive Wesen vor, die zwar auch Lebewesen wie die Tiere sind, aber dank einer besonderen Gunst der Götter über die Fähigkeit zum Erkennen und zum Denken verfügen.“ Volker Gerhardt lehrte bis 2012 als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Dort ist er auch weiterhin als Seniorprofessor tätig.

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Jeder Mensch hat seinen Preis

In der Lebenswelt hat alles seinen Preis, nicht nur die natürlichen Ressourcen und die Dinge, sondern auch die Menschen. Annemarie Pieper erklärt: „Zwar läuft niemand mit einem angehefteten Preisetikett durch die Gegend, aber wir taxieren andere automatisch: anhand ihres Aussehens, ihrer Kleidung, der Art, wie sie sich bewegen, sprechen, sich verhalten.“ In lange zurückliegenden Zeiten mag die blitzschnelle Einschätzung, insbesondere von Fremden, überlebenswichtig gewesen sein: Freund oder Feind? Besser, man bemächtigt sich seines Skalps als Trophäe für die eigene Überlegenheit, als die Konfrontation mit dem Leben zu bezahlen. Die heutigen Kopfjäger hingegen, die sogenannten Headhunter, bemessen den Wert einer Person an den Spitzengehältern, die der freie Markt für die Fähigkeiten ihres Kopfes zu zahlen bereit ist. Prof. Dr. Annemarie Pieper lehrte von 1981 bis 2004 Philosophie an der Universität Basel.

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Pflichterfüllung bedeutet mitnichten Kritiklosigkeit

Pflichterfüllung ist kein Selbstzweck, und Pflichten, die frei von gutem Nutzen sind, sind kritisch zu hinterfragen. Pflichtbewusster Staatsbürger eines liberal-demokratischen Staates zu sein, bedeutet mitnichten Kritiklosigkeit oder einen Glauben an alle massenmedial verbreiteten Mehrheitsmeinungen. Richard David Precht nennt ein Beispiele: „Wer gegen Kohlekraftwerke oder Aufrüstung protestiert, vernachlässigt nicht seine staatsbürgerlichen Pflichten, lässt deswegen nicht Empathie vermissen oder missachtet die Schwachen und Schutzbedürftigen.“ Doch was sich auf Querdenker-Demos abspielt ist keine Rebellion im Namen der humanitas. Es lässt sich nicht vergleichen mit dem Protest gegen den Hunger in der Welt bei gleichzeitigem Überfluss der reichen Länder. Und auch nicht gleichsetzen mit dem Aufbegehren gegen die noch immer rasant fortschreitende Zerstörung der klimatischen Lebensbedingungen des Menschen auf der Erde. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Freiheit und Nachhaltigkeit gehören zusammen

Über Freiheit nachzudenken erfordert, die Herausforderungen der Gegenwart mitzubedenken, unter denen die ökologische Krise weit oben steht. Aus dieser Überlegung heraus ist das Vorhaben von Katia Henriette Backhaus entstanden, das Konzept nachhaltiger Freiheit zu entwerfen. Dabei geht es ihr bewusst nicht darum, nach einer neutralen Position zu streben. Eine solche Konzeption muss plausibel darlegen, dass sie die Relation von Freiheit und Nachhaltigkeit in beide Richtungen stärken kann. Katia Henriette Backhaus erklärt: „Sie erhält die politische Freiheit der Menschen auf der Erde nachhaltig, also auf Dauer. Und sie respektiert und gewährleistet den Erhalt der natürlichen Bedingung der Möglichkeit der politischen Freiheit.“ Das bedeutet: Die nachhaltige Freiheit darf die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit nicht ignorieren. Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.

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Erkenntnis ist ein Wiedererkennen

In einem Dialog zwischen Menon und Sokrates untersucht Platon das Rätsel des Erkennens anhand der Begegnung mit einer Idee. Woher kommt, genau in diesem Moment, in dem man zum ersten Mal etwas begreift, in dem man eine Idee klar formuliert, der Eindruck, dass sie evident sei, dass man es schon immer wusste? Erkenntnis, so Platon, ist eigentlich ein Wiedererkennen. Oder, um es mit seinen Worten zu sagen, eine „Reminiszenz“ oder Rückerinnerung. Charles Pépin erläutert: „Bevor wir geboren wurden und für die begrenzte Dauer unseres irdischen Lebens in unseren Körper fielen, gehörten wir der Welt der ewigen Ideen an. Und diese Welt werden wir im Augenblick des Todes, befreit von den Grenzen unseres Körpers, weiderfinden.“ Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Die Sprechweise wirkt sich auf die Wahrnehmung der Zuhörer aus

Im Allgemeinen treten vorurteilsbedingte Fehlfunktionen in einer Praxis der Bezeugung auf zweierlei Weise auf. Miranda Fricker erklärt: „Entweder führt das Vorurteil dazu, dass die Sprecherin für glaubwürdiger gehalten wird, als es normalerweise der Fall wäre – es gibt also einen Glaubwürdigkeitsüberschuss. Oder aber sie wird als weniger glaubwürdig wahrgenommen als sonst – dann liegt ein Glaubwürdigkeitsdefizit vor.“ Man denke nur daran, welch unmittelbare Auswirkung ein Akzent oder die Sprechweise einer Sprecherin auf ein Gespräch hat. Eine bestimmte Sprechweise birgt nicht nur eine soziale Komponente, die sich darauf auswirkt, wie ein Zuhörer die Sprecherin wahrnimmt, sondern hat auch sehr oft eine epistemische Komponente. Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute für Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield.

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Es tobt ein Kampf zwischen Gut und Böse

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 03/2024 erörtert die Frage: „Gibt es die Guten und die Bösen?“ Friedrich Nietzsche meinte, dass die Religion ihren Begriff des Guten aus einer „Sklavenmoral“ zöge, die das Starke, Herrische als böse abwerte, um die Schwachen triumphieren zu lassen. Die Zuschreibung des Bösen liegt für den Philosophen Fabian Bernhardt nahe, sobald ein Gegenüber sich an Werten orientiert, die man selbst für problematisch oder gar gefährlich hält. Der Zwang zur Rechthaberei gilt bekanntlich als eine in Deutschland besonders stark ausgeprägte Untugend. Auch weltweit gilt: affektive Erregungswellen, die sich übereinandertürmen, eine nicht endende Flut von Shitstorms, beleidigende Interferenzen, wohin man auch schaut. Wer in Bezug auf eine bestimmte Streitfrage oder einen bestimmten Konflikt jeweils die Guten und die Bösen sind, scheint dabei häufig von vornherein ausgemacht.

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Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften

Seit Platon waren sich die Philosophen bewusst, dass die Sinne täuschen und Überzeugungen irregeleitet sein können. Aber sie nahmen an, dass den Menschen von Natur aus ein Drang zur Wahrheit innewohne und die Vernunft sie auf dem Weg zu ihr leiten würde. Jonathan Rauch blickt zurück: „Vor fast 300 Jahren formulierte der schottische Philosoph David Hume seine Kritik an dieser Standardauffassung.“ In seinem „Traktat über die menschliche Natur“ trug er eine der in dieser Sache entschiedensten und bekanntesten Thesen vor. Er schreibt: „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften und sollte auch nur das sein. Auf kein anderes Amt kann sie Anspruch erheben als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“ Jonathan Rauch studierte an der Yale University. Als Journalist schrieb der Politologe unter anderem für das National Journal, für The Economist und für The Atlantic.

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Die meisten Gemeinschaften sind exklusivistisch orientiert

Richard Rorty schreibt: „Die Frage, ob es Überzeugungen und Wünsche gibt, die allen Menschen gemeinsam sind, ist ziemlich uninteressant, wenn man nicht von der Vorstellung einer utopischen, inklusivistischen Menschengemeinschaft ausgeht, die nicht mit der Entschiedenheit, mit der sie Fremde ausschließt, stolz ist, sondern auf die Verschiedenheit der Arten von Menschen, die sie willkommen heißt.“ Die meisten menschlichen Gemeinschaften sind jedoch exklusivistisch orientiert. Ihr Identitätsgefühl und das Selbstbild ihrer Angehörigen beruhen auf ihrem Stolz darauf, bestimmten Arten von Menschen nicht anzugehören. Nämlich denen, die den falschen Gott verehren, die falschen Nahrungsmittel essen oder irgendwelche anderen abwegigen, abstoßende Überzeugungen oder Wünsche haben. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.

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Gewalt ist manchmal moralisch gerechtfertigt

Wenn man Ausnahmen vom Grundsatz der Gewaltlosigkeit macht, zeigt das, dass man bereit ist zu kämpfen und zu verletzen, vielleicht sogar zu morden. Und dass man bereit ist, dafür moralische Gründe anzuführen. Judith Butler erklärt: „Nach dieser Logik handelt man in diesem Fall entweder zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung jener, die zum weit gefassten Regime des Selbst gehören.“ Denn mit diesen kann man sich identifizieren oder als dem weiteren sozialen oder politischen Raum zugehörig anerkennen, in dem man sich auch selbst verortet. Wenn das stimmt, dann gibt es eine moralische Rechtfertigung von Gewalt, deren Basis demografischer Art ist. Was hat die Demografie in dieser ethischen Debatte über Ausnahmen vom Gewaltverbot zu suchen? Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Nicht jeder ist immer ein guter Mensch

Beim moralischen Wahlakt geht es immer um den fundamentalen Zielkonflikt zwischen positiven externen Effekten und dem Eigennutz. Armin Falk erläutert: „Wir wägen das moralisch Wünschbare ab mit den Unannehmlichkeiten und Nachteilen, die mit unseren Handlungen verbunden sind.“ In diesem Zielkonflikt, so simpel er erscheinen mag, liegt der Kern des Problems begründet, warum nicht jeder und immer ein guter Mensch ist und nicht automatisch den allgemein akzeptierten moralischen Vorstellungen folgt. Schlicht deswegen, weil es „teuer“ ist. Wer nicht bereit ist, die Kosten zu tragen, verhält sich nicht altruistisch, sondern egoistisch. Wäre der moralische Akt kostenlos zu haben, wären wohl alle Menschen moralische Superhelden. Armin Falk leitet das Institut für Verhaltensökonomik und Ungleichheit (briq). Außerdem ist er Direktor des Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung, sowie Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn.

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Immanuel Kant revolutioniert die Philosophie

Die Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist diesmal Immanuel Kant gewidmet. Der Philosoph, dessen Geburtstag sich am 22. April zum 300. Mal jährt, gehört zu den bedeutendsten Denkern der Philosophiegeschichte. Der israelische Philosoph Omri Boehm versteht Kant, entgegen der gängigen Klischees, als einen Philosophen des Ungehorsams, gar als Anarchisten. Er sagt: „Die wichtigste Erkenntnis Kants ist, dass es Autorität – im Gegensatz zu Macht – nur geben kann, wenn die Vernunft in der Lage ist, sich selbst ihre eigenen Regeln zu geben.“ Dadurch wird jede von außen kommende Autorität abgelehnt. Denn äußere Autorität und Autonomie schließen sich in gewisser Weise aus. Laut Omri Boehm besteht Immanuel Kants wichtigstes Vermächtnis darin, den Universalismus durch die Freiheit und nicht durch Gott oder die Natur zu begründen – im Zusammenhang mit der Menschenwürde.

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Das Über-Ich kann von Schuld und Schande befreien

Sigmund Freud Erklärung des Ursprungs des Gewissens, des Über-Ichs, ist nach Richard Rortys Eindruck eine weitere Lesart des John Dewey motivierenden Antiautoritarismus. Zwischen zwei Menschentypen besteht ein Verhältnis wechselseitigen Unverständnisses. Richard Rorty erklärt: „Die erste Gruppe umfasst diejenigen, die ihre größten Hoffnungen in die Vereinigung mit etwas Übermenschlichem setzen. Dabei handelt es sich um eine Quelle des Über-Ichs, die genügend Autorität besitzt, um die Menschen von Schuld und Schande zu befreien. Zur zweiten Gruppe gehören jene, die ihre größten Hoffnungen in eine bessere Zukunft des Menschen setzen, die man durch ein höheres Maß an brüderlicher Zusammenarbeit zwischen den Menschen erreichen will. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.

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Es gibt universelle moralische Prinzipien

Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt und andere Forscher neigen zu einem Relativismus, der zugespitzt lautet: Jede Kultur hat ihre eigene Moral. Philipp Hübl erläutert: „Wenn die Moral den Gefühlen gehorchen muss, kanns sie als Sklavin der Leidenschaften schwerlich universell sein.“ Im Westen ist moralischer Relativismus heute oft aus Minderheitenschutz heraus, also aus Fürsorge und Fairness motiviert. Denn es besteht die Angst, in der Moral kolonialistisch oder „ethnozentrisch“ zu verfahren. Doch universelle moralische Prinzipien sind nicht „westlich“, nur weil einige von ihnen zuerst im Westen formuliert wurden. Genauso wenig ist das Prinzip des gewaltlosen Widerstands gegen Unterdrücker „indisch“, nur weil es Mahatma Gandhi als Erster erfolgreich gegen die britischen Besatzer eingesetzt hat. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Die Glaubenswelten sind ein „Tummelplatz für Betrügereien“

Rüdiger Safranski stellt fest: „Kein Autor vor Michel de Montaigne hat so gedankenreich das Hohelied von Gewohnheit und Übung angestimmt.“ Und es ist bezeichnend, dass er dieses Thema beim Nachdenken über den Tod entdeckt. Es heißt zwar: eine Erfahrung „machen“. In Wirklichkeit aber widerfährt sie einem, im günstigsten Fall wird sie einem geschenkt, und für Michel de Montaigne ist es die große Natur, die nimmt und gibt. Und darum schreibt er in einem der letzten Essays, nicht lange vor seinem Tod: „Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es soweit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für sich übernehmen. Grübelt also nicht darüber nach.“ Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Im natürlichen Zustand gibt es nur Stärke und Schwäche

Im natürlichen Zustand gibt es weder Freiheit noch Unfreiheit, sondern nur Stärke und Schwäche. Und die Beherrschung der Schwachen durch die Starken. Christoph Menke erklärt: „Die Hervorbringung der Freiheit beginnt damit, dass dieser Zustand aufhört natürlich zu sein – oder natürlich zu scheinen – und die Abwesenheit der Freiheit als Unfreiheit erfahren wird.“ Nämlich als Negation der Freiheit, als Knechtschaft. Das macht diesen Zustand zu einem nichtnatürlichen; zu einem Zustand, in dem nicht frei zu sein heißt, der Freiheit beraubt zu sein. Mit dieser Erfahrung befinden sich die Menschen zum ersten Mal – in der Gesellschaft. Die erste wahrhafte Erfahrung eines nichtnatürlichen Verhältnisses, ist die Erfahrung der Unfreiheit. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Beim Lebensziel Glück entgleitet die Gegenwart

Wenn Menschen sagen, ihr Lebensziel sei es, glücklich zu sein, geben sie zu verstehen, dass sie unglücklich sind. John Gray ergänzt: „Da sie Glücklichsein als Projekt betrachten, können sie es nur in der Zukunft verwirklichen. Die Gegenwart entgleitet ihnen, und Angst schleicht sich ein.“ Sie fürchten, ihr Fortschreiten auf dem Weg zu dem künftigen Zustand könnten bestimmte Ereignisse stören. Also wenden sie sich der Philosophie und heutzutage der Therapie zu, die ihnen Linderung ihres Unbehagens versprechen. Indem sie sich als Heilmethode geriert, ist Philosophie ein Symptom der Störung, die sie zu beheben vorgibt. Andere Tiere haben es nicht nötig, sich von ihrer Befindlichkeit abzulenken. John Gray lehrte Philosophie unter anderem in Oxford und Yale. Zuletzt hatte er den Lehrstuhl für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics inne.

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Nicht selten verdunkelt sich der Raum der Öffentlichkeit

Heutzutage ist nicht nur eine Abkehr von der Wahrhaftigkeit, sondern auch von der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit überhaupt, zu beobachten. Juliane Rebentisch stellt fest: „Die Effekte dieser Abkehr, die mit einer offiziellen Geringschätzung der Welt und der Öffentlichkeit einhergehen, sind dramatisch.“ Denn durch diese Geringschätzung wird nicht nur die Frage, ob etwas wahr oder unwahr ist, ersetzt durch die nach den eigenen Interessen.“ Eine solche Umstellung wird vielmehr die Gemeinsamkeit der Welt, in der allein ihr Bestand gewahrt werden kann, zerfallen lassen. Hannah Arendt schreibt: „In der Geschichte sind Zeiten, in denen der Raum der Öffentlichkeit verdunkelt und der Bestand der Welt fragwürdig wird, nicht selten.“ Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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